Heinrich Hanf: Das Nazaret-Projekt

Heinrich Hanf: Das Nazaret-Projekt, Bochum 2012, Luzifer-Verlag Steffen Janssen, ISBN 978-3-943408-10-2, Softcover/Klappenbroschur. 245 Seiten, Format: 20,6 x 12 x 2 cm, EUR 12,95.

Würde einer unserer Nachbarn oder Kollegen behaupten, es könne für die Wiederkehr von Jesus Christus sorgen, bekäme er einen Platz in der Psychiatrie und der Fall wäre erledigt. Zeigt ein steinreicher und mächtiger Mann wie der Medienmogul Nathan Brock Symptome solchen religiösen Größenwahns, hat das schon ganz andere Sprengkraft. Er ist prominent und überzeugend genug, um eine Gruppe christlicher Fundamentalisten um sich zu scharen, und er hat die Mittel, um die erforderlichen Experten aus Wissenschaft und Unterwelt anzuheuern.

Brock verlässt sich nämlich nicht auf Gebete. Er lässt das Turiner Grabtuch stehlen und aus der mutmaßlichen Jesus-DNS ein Kind klonen. Als Leihmutter fungiert die junge Nonne Marie-Claire – per unbefleckter Empfängnis.. Das ganze findet auf einer aufgelassenen Nordsee-Bohrinsel statt, die den bezeichnenden Namen „Nazaret“ erhält. Dort vermutet die Welt nur einen christlichen Piratensender.

Zu den angeheuerten Fachleuten gehört auch der wortgewaltige US-amerikanische Fernsehprediger Telly „The Truth“ Suntide, den Brock für die PR braucht. Er wird unter strenger Geheimhaltung aus dem sonnigen Los Angeles auf die Bohrinsel gebracht.

Zunächst ist Reverend Suntide von dem Brimborium beeindruckt, das Nathan Brock und seine Männer da veranstalten. Es ist eine abenteuerliche Mischung aus Hightech, Glaubenskitsch und Tempelritter-Romantik. James Bond trifft Dan Brown im Jurassic Park. Doch mag der Reverend auch ein scheinheiliger Showman sein, auf den Kopf gefallen ist er nicht. Die Sache ist ihm definitiv nicht geheuer. Vorausgesetzt, auf dem Turiner Grabtuch befindet sich tatsächlich die richtige DNS: Kann und darf man Jesus Christus einfach so klonen? Das Göttliche auch? Wie wird der Heiland selbst das finden? Und wie reagiert die Welt? Die Ankunft bzw. Rückkehr des Messias dürfte doch keinem der derzeitigen religiösen Machthaber in den Kram passen.

Ähnliche Zweifel hegt außer dem Reverend nur noch ein alter Freund und spiritueller Berater Brocks: Bruder Hieronymus Meyrink. Dessen Bedenken sind weniger religiöser Natur. Er scheint sich sowieso ein ganz eigenes Glaubenssystem zusammengebastelt zu haben. Er hält das ganze Klonprojekt aus den verschiedensten Gründen für brandgefährlichen Mumpitz. Niemand kann garantieren, dass Jesus II wieder ein friedliebender Wanderprediger werden wird. Weiß der Himmel, was man sich da zusammengeklont hat, zumal sich das Kind im Leib der Mutter unnatürlich schnell entwickelt. Die Aussagen der Genetiker lassen Schlimmes befürchten. Und wenn sich erst einmal herumspricht, wo sich der geklonte Jesus aufhält, wird das Machtmenschen, Spinner und Fanatiker aller mögliche Couleur auf den Plan rufen. Und dann gnade ihnen … wer auch immer!

Die Bedenken des Bruder Hieronymus sind nicht unberechtigt. Nichts, was mehr als ein Mensch weiß, bleibt auf die Dauer geheim. Der Vatikan hat schon seine Spione in Stellung gebracht und in Kairo trifft sich eine Gruppe muslimischer Religionsführer. Die sind einander zwar spinnefeind, wären aber zu einer Kooperation bereit, notfalls auch mit dem Mossad, um den Klon-Jesus aufzuspüren und unschädlich zu machen. Sie halten das Projekt schlicht für Gotteslästerung. Die hohen Herren im Vatikan vernehmen dies mit Freude und lehnen sich gemütlich zurück, haben sie jetzt doch ein paar, äh, Freiwillige für die Drecksarbeit gefunden.

Derweil verheißt der noch ungeborene Jesus per Telepathie unserem Fernsehprediger die Erfüllung all seiner Wünsche. Doch anscheinend hängt der Reverend zu oft mit Bruder Hieronymus ab, der das Nazaret-Projekt mit einer Art amüsierter Distanz verfolgt, als sei es nur ein laienhaft aufgeführtes absurdes Theaterstück.

Will Telly Suntide überhaupt noch im Dienst des Nazaret-Projekts stehen? Glaubt er noch daran? Hat er überhaupt je wirklich an Gott geglaubt? Je mehr darüber nachdenkt und je intensiver er mit Hieronymus diskutiert, der eine gänzlich andere Vorstellung von Gott und der Welt hat als er, desto unwahrscheinlicher wird es für ihn, sein altes Leben als Fernsehprediger wieder aufzunehmen. „Seine Villa, seine gläserne Kathedrale in Santa Monica – nur ein potemkisches Dorf! Seine Geheimloge – ein Karnevalsverein, nichts weiter als ein Produkt spätpubertärer Pfadfinder-Romantik auf den Spuren der Tempelritter und Friedrich Nietzsches. Der Gedanke an seine lächerliche und anmaßende Selbstdarstellung als Auserwählter und spiritueller Führer erfüllte ihm mit tiefer Scham und Reue (…)“ Seite 225/226.

Doch wenn Telly Suntide Pech hat, muss er sich gar keine Gedanken mehr über die Gestaltung seiner Zukunft machen. Der geklonte Jesus ist inzwischen auf der Welt und, obwohl noch ein Baby, bereits in Besitz eines Erwachsenen-Bewusstseins. Und er will aus Gründen, die nur er selbst kennt, schnellstmöglich nach Jerusalem. Dass er auf dem Weg dorthin ist, das wissen allerdings auch seine zu allem entschlossenen Gegner …

„Meschuggener Milliardär lässt Jesus klonen“ – das klingt zwar nach einem fernsehkitschtauglichen Verschwörungsschmonzes, doch so etwas würde ein kritischer Geist wie Heinrich Hanf niemals schreiben. Seine Romanfigur Nathan Brock mag entsprechende Bilder im Hinterkopf gehabt haben, als er das Nazaret-Projekt anzettelte, aber der Autor macht ihm ein paar fette Striche durch die Rechnung. Machtstreben, Gier, Fanatismus und ähnlich erfreuliche menschliche Eigenheiten sorgen dafür, dass den Messias-Schöpfern von eigenen Gnaden die größenwahnsinnigen Pläne nicht sehr viel Freude bereiten.

Das ist keine leichte Bibelthriller-Kost, bei der nur ständig irgendwelche Leute von A nach B rennen. Hier geht es um (religiöse) Weltbilder. Vor allem die Gedankenwelt des Bruder Hieronymus will erst einmal verstanden werden. Dass bei Heinrich Hanf ein Satz schon mal über 10 Zeilen geht, vereinfacht die Sache nicht gerade. Da liest man manchen Absatz zwei- bis dreimal und hat immer noch Diskussionsbedarf. Sag mal, Bruder Hieronymus: Wenn doch eh alles ein einziges Bewusstsein ist und es im Grunde kein Ich und Du gibt – wozu dann die ganze bewusste Evolution? Wär’s dann nicht wurscht, ob jemand die Welt versteht oder nicht? Dadurch ändert sich doch nichts, oder?

Aber vielleicht geht es mir wie dem amerikanischen Reverend und ich bin noch nicht so weit, das alles zu verstehen. Schon gar nicht die „Genesis nach Heinrich“. Wenn ein Gott sich langweilt und ein Schriftsteller phantasievoll und belesen ist, dann denken die sich sowas aus …

Doch selbst für die Schmalspur-Philosophen unter den Lesern ist DAS NAZARET-PROJEKT packender und anregender Lesestoff mit interessanten Gestalten. Telly Suntide macht die mit Abstand größte Entwicklung in dem Roman durch. Bruder Hieronymus und ein Privatdetektiv namens Nick Valetta, der für den Vatikan spioniert, sind Nebenfiguren, die man sich noch in ganz anderen Geschichten vorstellen könnte.

Der Autor
Heinrich Hanf, geboren 1949 in Schwandorf, aufgewachsen in München, ist ungefähr so vielseitig wie seine Romanfigur Bruder Hieronymus. Nur als spiritueller Führer war er bisher noch nicht aktiv. 😉 Dafür aber als Zahntechniker, Musiker, Keramiker, Songtexter und Autor von Romanen, Satiren und Kurzgeschichten.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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