Gina Mayer: Die Wildnis in mir, Stuttart 2011, Thienemann-Verlag, ISBN 978-3-522-20074-5, Hardcover mit Schutzumschlag, 330 Seiten, 2 Landkarten, Format 14 x 21 x 3 cm, EUR 16,95 (D), EUR 17,50 (A), sFr 25,90 (CH).
„Er reichte mir eine Handvoll Beeren, die er von einem der Sträucher am Wasserloch gepflückt hatte. Ich ließ sie aus meiner Hand in meinen Mund rollen. Sie schmeckten ein bisschen herb, aber sehr aromatisch, wild und saftig. Wie mein Leben in Afrika.“ (Seite 278)
Elberfeld/Wuppertal 1899: Seit dem Tod ihres Mannes, der am Ort Lehrer war, bringt Martha Hauck sich und ihre Tochter Henrietta mehr schlecht als recht mit Näh- und Flickarbeiten über die Runden.
Henrietta, 16, träumt von einer Ausbildung am Lehrerinnenseminar, doch das vom Vater dafür angesparte Schulgeld hat die Mutter inzwischen für die Kosten des täglichen Lebens aufgebraucht. Anstatt Ausbildungskosten zu verursachen und Lehrerin zu werden, soll Henrietta als Dienstmagd auf dem Hof der geizigen Witwe Künstner arbeiten. Das ist für sie indiskutabel. Sie greift zu einer Notlüge und bauscht vor ihrer Mutter das Interesse des Künstnerhof-Knechts zu einem unsittlichen Übergriff auf. Das mit der Dienstmagdstelle hat sich damit für sie erledigt.
Marthas Plan B zur Sicherung ihrer Existenz ist abenteuerlich: Sie nimmt den Heiratsantrag eines verwitweten Missionars in Deutsch-Südwestafrika an. Immanuel Freudenreich heißt der gottesfürchtige Mann, den sie bislang nur aus Briefen kennt. Pfarrer Krupka, ohne den Martha seit dem Tod ihres Mannes keine Entscheidung mehr trifft, hat ihr zu diesem Schritt geraten.
Ende Januar 1900 gehen Mutter und Tochter in Hamburg an Bord der „Gertrud Woermann“ und reisen nach Swakopmund. Henrietta, die ungleich offener und kontaktfreudiger ist als ihre misstrauische und abweisende Mutter, lernt an Bord des Schiffes die gleichaltrige Eva Cordes kennen, die mit ihren Eltern und ihren Brüdern auf den Weg nach Wupperthal im Kapland ist, wo Pastor Cordes eine Missionsstation leiten soll. Und sie trifft auf die allein reisende Edeltraud Hülshoff, ein belesenes und ziemlich sprödes Fräulein, das in Swakopmund bei einer deutschen Ingenieursfamilie als Gouvernante arbeiten will.
Der Missionar kann sie nicht persönlich abholen. Er hat schickt zwei Hottentotten – Samuel und Petrus – mit einem Ochsenkarren. Vier Wochen lang sind die Frauen über Land zur Missionsstation Bethanien unterwegs. Als sie endlich in Bethanien eintreffen, ist das eine Enttäuschung, genau wie der Missionar selbst. Die Missionsstation ist eine Ansammlung schäbiger Baracken mitten im Nirgendwo und Immanuel Freudenreich erweist sich als unzugänglicher und selbstgerechter Wicht.
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Das Kommando auf der Station führt die farbige Haushälterin Susanna, die Henrietta wie eine Dienstmagd behandelt und alle Anweisungen der neuen Hausherrin beharrlich ignoriert. Henriettas Pläne vom Lehrerinnenseminar hält der Stiefvater für Zeit- und Geldverschwendung. Sie würde ja ohnehin heiraten, meint er, und Männern sei eine dumme Frau lieber als eine gebildete. Henriettas Mutter, die wohl noch nie im Leben eine eigene Meinung gehabt hat, gibt ihrem Gatten ein allem recht. Er ist ein Mann, er wird’s schon wissen. Widerspruch wäre sowieso zwecklos.
Henrietta fühlt sich verraten und grenzenlos einsam. Nicht einmal Briefkontakte sind ihr erlaubt. Der einzige Freund des Mädchens ist Ochsentreiber Petrus, der viel besser deutsch spricht als er zunächst erkennen lässt. Seine Intelligenz und sein Ehrgeiz haben ihm bislang nichts als Ärger eingebracht. Also stellt er sich blöd und hat seine Ruhe.
Als Henriettas Mutter im Juni des Jahres 1900 stirbt, flieht Henrietta Hals über Kopf von der Station. Bei ihrem Stiefvater bleibt sie keine Sekunde länger! Sie will zu ihrer Reisebekanntschaft vom Schiff, Edeltraud Hülshoff, die inzwischen in Warmbad lebt, doch sie kommt nicht weit. Nach ein paar Tagen auf der Flucht spürt Petrus sie auf. Missionar Freudenreich hat sie überall suchen lassen.
Zurück nach Bethanien will Henrietta nicht. Sie nach Warmbad zu bringen hält Petrus für zu riskant – also versteckt er sie zunächst bei seinem Stamm, den Nama. Doch auch das ist keine Dauerlösung. Wer könnte ihr jetzt noch helfen? Die Pastorenfamilie Cordes, vielleicht? Aber die lebt im weit entfernten Kapland! Henrietta hat kein Geld. Zu Fuß durch die Wildnis wäre sie viele Wochen unterwegs – wenn sie überhaupt je ankäme. Aber es gibt keine Alternative. Mit dem Mut der Verzweiflung macht sie sich auf den Weg, begleitet von Petrus. Längst empfinden die beiden mehr als nur Freundschaft füreinander.
Werden sie sich zur Missionsstation der Familie Cordes durchschlagen können? Können sie dort überhaupt Hilfe finden? Und abgesehen von den ganz existenziellen Fragen: Hat in dieser engstirnigen Gesellschaft die Liebe zwischen einer weißen Frau und einem farbigen Mann eine Chance? Und was wird aus Henriettas Lebenstraum, Lehrerin zu werden?
Im Grunde hat Henrietta Hauck ganz bescheidene, alltägliche Ziele und Wünsche: Sie möchte eine Berufsausbildung absolvieren und mit dem Mann ihres Herzens glücklich sein. Fast kein Problem – wenn man hier und heute lebt. Aber wenn „die Konventionen“ eine solche Lebensplanung nicht vorsehen, hat man ruckzuck die gesamte kleingeistige Gesellschaft gegen sich. So geht es Henrietta. Zum Glück gibt es immer wieder Menschen, die über all diesem kleinkarierten Firlefanz stehen und ein bisschen mehr Grips, Mut und Weitblick haben als der Rest. Erschreckend ist nur, dass das Mädchen rund achteinhalbtausend Kilometer zurücklegen und obendrein monatelang durch die Wildnis irren muss, um (vielleicht!) so jemanden zu finden!
Für den Leser ist Henriettas Entwicklung vom naiven Mädchen zur ernsthaften und zielstrebigen jungen Frau ein spannendes Abenteuer. Gina Mayer beherrscht es, kleine Andeutungen im Text fallen zu lassen, die einen geradezu zwingen, weiterzulesen. Aber bei so einer packenden, sorgfältig recherchierten und atmosphärisch dichten Geschichte lassen wir Leser das gerne mit uns machen. 😉
Gar nicht so leicht zu sagen, ob DIE WILDNIS IN MIR nun ein Abenteuerroman oder ein Entwicklungsroman ist. Er hat Elemente von beidem. Konzipiert ist der Roman für jugendliche LeserInnen ab 13 Jahren, wird aber garantiert auch sein erwachsenes Publikum finden. Das Buch wird „Auswandererroman und große Liebesgeschichte“ beworben, was eigentlich Schlimmes ahnen lässt. Zum Glück hat es mit Afrika-Kitsch, affigen Fernsehfilmen und verklärter Auswandererromantik nichts zu tun. Die einzige, die ganz zu Anfang romantische Vorstellungen von der neuen Heimat hat, ist Henrietta. Doch die wird sehr schnell mit der harten Realität konfrontiert und dazu gezwungen, in Rekordzeit erwachsen zu werden.
Henrietta verstößt in dieser Geschichte mehr als einmal gegen die geltenden Konventionen. Das überlebt sie nicht nur, das macht sie stärker, reifer und bringt sie ihren Zielen näher. Vielleicht gibt das ja manchen ihrer Mitmenschen zu denken und sie hören weniger auf das, was die Leute reden als auf das, was ihnen ihr Herz und ihr Verstand sagen.
Die Autorin:
Gina Mayer wurde 1965 in Ellwangen geboren. Sie studierte in Düsseldorf Grafik-Design und machte sich danach als Werbetexterin selbstständig. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder begann sie Bücher zu schreiben. Seit 2006 hat sie eine Vielzahl an historischen und zeitgeschichtlichen Romanen für Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Gina Mayer ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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