Frances G. Hill: Drachenhaut, München 2012, arsEdition, ISBN 978-3-7607-8453-3, Hardcover mit goldgeprägtem Schutzumschlag, 459 Seiten, Format: 21,4 x 15,8 x 5 cm, EUR 18,99.
„Sie nickte resigniert. ‚Ich will kein Drache werden. Aber es bleibt mir nicht wirklich eine Wahl.’
‚Nein’, sagte er. Ein Hauch von Bedauern war in seinem Blick. ‚Nein, ich fürchte, die hast du nicht.’“ (Seite 328)
Hat man es nicht schon immer geahnt? Ewiges Leben bedeutet Langeweile. Und Langeweile bringt intelligente und kreative Wesen auf die hirnrissigsten Ideen. So geht es auch der Peri Banu, der Fürstin der Feen, und ihrem Lebenspartner, Dem Naga, dem listigen Gott der Schlangen.
Zum Zeitvertreib wetten die beiden um ein wertloses Schmuckkästchen auf das Schicksal von Peri Banus Patensohn, Kronprinz Massinissa von Gashtaham. Der Naga will ihn mit einem Fluch belegen, den nur die „Dunkle Nacht“ wieder aufheben kann. Die Feenkönigin hält dagegen: „Mein Patensohn wird das Land nicht minder ruhmreich regieren als sein Vater.“ (Seite 13)
Gesagt, getan – und für den hoffnungsvollen Thronfolger ist nichts mehr, wie es war. Aus dem attraktiven jungen Mann wird bei abnehmendem Mond der geistig behinderte kleinwüchsige Massin und bei zunehmendem Mond der Panther Amyyas. Prinz Massinissa ist er nur noch wenige Stunden zwischen diesen beiden Zuständen.
Bei Hof ist man verzweifelt. Was für ein astronomisches Phänomen die „Dunkle Nacht“ wohl sein mag, die diesen Zauber brechen kann? Niemand weiß es, und so versuchen die Hofzauberer und der zauberkundige Staatsbeamte Kobad Beg ihr Glück. Der Beg hat von allen noch am meisten Ahnung von Magie. Und je mehr er sich mit der Aufhebung des Fluchs beschäftigt, desto tiefer zieht er die junge Lilya mit hinein, die seit dem gewaltsamen Tod ihrer Eltern in seinem Haushalt lebt.
Für Lilya ist der Beg ihr geliebter Großvater. Sich selbst hält sie für eine etwas dunkelhäutig geratene (und durch Brandnarben lebenslang entstellte) Angehörige des Volkstamms der Sardar, obwohl sich ihre Ähnlichkeit mit dem Wüstenvolk nicht verleugnen lässt. Aber Wüstenleute sind Nomaden oder Sklaven, das kann ja nicht sein!
Ihre Albträume, ihre eigenartigen Erinnerungen an einen „Seelenbruder“ und ihre wiederholten rätselhaften Begegnungen mit dem Schlangengott Der Naga hätten ihr eigentlich sagen müssen, dass sie keine gewöhnliche Bürgertochter sein kann. Und dass sie mit ihrem verletzten Auge verborgene magische Dinge wahrnehmen kann, ist auch nicht normal …
Nach einem aufregenden Besuch im Basar, bei dem Lilya dem Prinzen in seiner Panthergestalt über den Weg läuft, fällt sie für mehrere Tage in einen tiefen Schlaf. Als sie erwacht, sind ihre Brandnarben verschwunden und auf ihrer Haut erscheinen merkwürdige Zeichen, die an die Tätowierungen des Wüstenvolks erinnern. Ihre Dienerin Ajja ist entsetzt. Magische Kräfte sollen diese Zeichen besitzen und ihren Träger in höchste Gefahr bringen.
Auch der Beg die Bedeutung der Zeichen zu kennen. Er zieht umgehend mit Lilya in den Palast des Königs und missbraucht das Mädchen für schreckliche magische Experimente. Als sie ihr Leben bedroht sieht, flieht sie mit Hilfe des Prinzen und seines Dieners aus dem Serail. Im Basar trifft sie auf den Wüstenmann Gwasila, der sie anhand der Zeichen auf ihrer Haut als Mädchen aus seinem Volk identifiziert. Er nimmt sie mit in sein Heimatdorf, und tatsächlich lernt Lilya dort ihre Tante, ihre Cousine und einige Zeit später ihren Bruder kennen.
Spätestens nach der Begegnung mit ihrem leiblichen Großvater mütterlicherseits kann sie nicht mehr verdrängen, dass ihre Sippe nicht gerade zu den landesüblichen Durchschnittsfamilien gehört. Auf einmal ergeben ihre Träume, Erinnerungen und Fähigkeiten einen Sinn. Doch Lilya will das alles nicht wahr haben. Am liebsten wäre sie ein ganz normaler Mensch. Für das, was sie ist, gibt es ja noch nicht einmal eine Bezeichnung! Und die Mission, für die sie ausersehen wurde, macht ihr Angst: Sie soll den Kronprinzen von seinem Fluch erlösen. Doch sie traut sich nicht, ihre neu erwachten Kräfte einzusetzen und drückt sich vor ihrer Aufgabe. Das aber passt nicht in die Pläne Des Naga, der sich jetzt zügig was einfallen lassen muss. Dass diese nette kleine Wette mit der Feenkönigin dermaßen aus dem Ruder laufen würde, das hat doch nicht mal er als Gott ahnen können! Oder?
Wie das wunderschön und aufwändig gestaltete Buchcover schon andeutet, führt uns Frances G. Hill mit dieser Geschichte in eine opulente, orientalisch anmutende Fantasy-Welt. Und ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass man intelligent geschriebene Jugendbücher auch als Erwachsener mit Spannung und Vergnügen lesen kann. Dieses hier wird mit seiner Protagonistin, die sich vom verwöhnten Bürgertöchterlein zur tatkräftigen, selbstbewussten, ja weisen Frau mausert, natürlich vorwiegend Leserinnen ansprechen. Heldinnen, wenn sie nicht gerade Lara Croft heißen, sind für männliche Leser von eher minderem Interesse.
Die Sprache ist poetisch, die Geschichte recht komplex. Mit jeder überraschenden Wendung erfährt Lilya mehr über sich und ihr Umfeld. Und jedes Mal wird ihr bisheriges Weltbild aufs Neue erschüttert. Es wird dem jungen Mädchen auch einiges zugemutet: Götter und Feen, Werpanther und Drachen, Dämonen und enorme magische Kräfte. Und nicht zuletzt ihre eigene Familiengeschichte. Das ist ein ganz schöner Brocken für eine brave sardarische Beamten-Enkelin, die bislang allenfalls ein bisschen Küchenzauber aus dem Basar kannte. Im selben Maß, wie sich Lilyas Horizont erweitert, schrumpfen ihre Vorurteile. Wenn nichts ist, wie es bisher schien, muss man eben alles neu überdenken.
Aus der Geschichte von Lilya und Amyyas hätte man vermutlich ein mehrbändiges Epos machen können, so viel Stoff bieten diese Welt und ihr exotisches Personal. Die Autorin hat das nicht geplant und erzählt die Geschichte am Schluss gewissermaßen im Zeitraffer zu Ende. Damit wissen wir alles, was es zu wissen gibt, doch bleibt das Gefühl zurück, dass uns auf diese Weise viele weitere faszinierende Abenteuer entgangen sind. So manches hätten wir lieber ganz ausführlich erzählt bekommen. Nur ungern verlassen wir die Personen und ihre phantastische Welt. Leser sind eben „Serientäter“. Wenn sie mal einen Roman-Kosmos für sich entdeckt haben, wollen sie immer wieder dort hin zurück.
Erwachsene Leserinnen werden sich vermutlich fragen, ob das Buch nicht auch feministisch-pessimistische Züge trägt: Eine starke Frau bleibt am Schluss allein, weil sich kein geeignetes „Partnermaterial“ findet. Und ein Gott ist auch nur ein Kerl, dem es in aller Ewigkeit nicht gelingt (s)eine Frau zu verstehen. Denn sonst hätte Der Naga ja wissen müssen, wie seine Peri Banu auf die Wette reagieren wird und wäre nicht so überrascht über den Fortgang der Geschichte gewesen.
Männer!
Die Autorin
Susanne Gerdom, die auch unter dem Pseudonym Frances G. Hill schreibt, ist 1958 in Düsseldorf geboren und am Niederrhein aufgewachsen. Nach einer Lehre als Buchhändlerin beschäftigte sie sich mit dem Theater und verbrachte einige Jahre als Schauspielerin und Regisseurin in Düsseldorf. Später begann sie Fantasy und Science-Fiction zu schreiben. Sie lebt und arbeitet seit 2008 wieder am linken Niederrhein.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http://www.boxmail.de