Aus der Zeit gefallen

Jemand muss es mal sagen. Und wenn sich sonst keiner erbarmt, dann übernehme ich das: Wenn ein sechzigjähriger Autor einen seinen Roman im Hier und Heute ansiedelt und seinen Helden 30 Jahre alt sein lässt, dann genügt es nicht,  ihm die eigenen Erfahrungen und Vorlieben anzudichten und vom Alter einfach dreißig Jahre abzuziehen. Das funktioniert nicht. Die Figur wirkt dann wie aus der Zeit gefallen – ein 60-jähriger Geist in einem 30-jährigen Körper. Das ist mir in letzter Zeit wiederholt untergekommen und es hat mich jedes Mal wahnsinnig gestört.

Man sollte schon recherchieren, was die 30-jährigen heute umtreibt, wie sie leben und welche Musik sie hören. Das vor allem. Der Musikgeschmack prägt sich in der emotional turbulenten Zeit der Pubertät. Wenn ein Thirtysomething keine aktuelle Mucke streamt oder downloaded, sondern Oldies aus den 60-ern und 70-ern oder gar Blues auf Schallplatten bevorzugt, braucht er dafür einen verflixt guten Grund.

Wenn er mit Leuten abhängt, die 30 Jahre älter sind als er, weil sie ein gemeinsames Hobby haben, fein. Dass er einen 70-er Jahre-Traumberuf hat und von der Toskana schwämt, meinetwegen. Aber wenn es ihn nach Hause drängt, weil er seinen neuen Schwarm anrufen will und die Telefonnummer nur daheim hat, reibt man sich als Leser verwundert die Augen. Hallo? Er eilt zum heimischen Festnetzanschluss, um die Angebetete zu kontaktieren? Wie Eighties ist das denn? Schon mal was von Smartphone gehört? Das ist doch heute schon sowas wie ein natürliches Organ der (jüngeren) Leute! So unverzichtbar wie Sauerstoff.

Der junge Mann zockt in seiner Freizeit nicht am Computer und kommt nicht mal auf die Idee, einen Menschen, über den er recherchiert, erst mal online zu stalken, obwohl es naheliegt, dass derjenige eine Website betreibt und vermutlich auch in sozialen Netzwerken aktiv ist.

Wenn man sich nicht die Mühe machen will, herauszufinden, wie Menschen im vorgeblichen Alter des Protagonisten heute wirklich ticken, dann kann man ja den Helden tatsächlich 60 sein lassen, ihn als skurrilen „Analog-Sonderling“ beschreiben oder die Geschichte in den 80-er Jahren ansiedeln. Aber einen 60-jährigen beschreiben und einfach in einem Satz behaupten, dass er halb so alt sei, das ist unglaubwürdig und haut nicht hin. Show, don’t tell.

Foto: Dorothea Jacob, http://www.pixelio.de

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