Restlaufzeit

„Du musst jetzt zurückstecken.“ Diese Aufforderung begleitet mich schon seit meiner Kindheit. „Sei jetzt brav und nimm Rücksicht“, sagte die Familie zu mir. „Deine Eltern müssen sich jetzt um den Umbau kümmern, da werden sie kaum Zeit für dich haben.“

Ich werde vermutlich brav genickt haben. Verstanden habe ich nichts. Ich war neun Jahre alt und konnte mir weder unter einem Umbau, bei dem das halbe Haus zerlegt werden sollte, etwas vorstellen, noch wusste ich, was in dem Zusammenhang mit Zurückstecken gemeint war.

Ein freies Pippi-Langstrumpf-Leben


Es schien auf jeden Fall etwas Gutes zu sein. Ich führte zwei Jahre lang ein freies Pippi-Langstrumpf-Leben mit einer Baustelle als Abenteuerspielplatz. Niemand interessierte sich dafür, was ich tat. Ich krabbelte in der Baugrube herum, kletterte auf dem Gerüst umher und auf dem Dach. Dass das Treppenhaus monatelang unbegehbar und unsere die Wohnung im ersten Stock nur mittels einer Leiter über den Balkon zugänglich war, fand ich klasse. Wer von meinen Schulfreunden hatte sowas schon? Und mit einer Küche, der die Rückwand fehlte, konnte sonst auch niemand aufwarten.

Immer war etwas los! Freunde und Verwandte kamen um auf der Baustelle zu helfen. Es gab interessante Werkzeuge, Maschinen und Arbeiten zu bestaunen, wilde Geschichten zu hören und aus dem Chaos wurde wirklich nach und nach wieder ein komplettes Haus.

Meine Eltern waren von den Umbauarbeiten so erschöpft, dass sie an den Wochenenden gar nicht daran dachten, mich auf langweilige Spaziergänge mitzuschleifen. Und dass ich einen ollen Schwarzweiß-Fernseher, bei dem nur noch das erste Programm funktionierte, in mein Zimmer unterm Dach schleppte und bis in den späten Abend irgendwelchen Blödsinn anschaute, war auch kein Thema. Für sowas hatten sie einfach keinen Kopf.

Ab und zu fiel ihnen dann aber doch auf, dass irgendwas aus dem Ruder lief. Dann gab’s einen Erziehungsflash. Mecker, Schläge, Fernsehverbot. Aber im Großen und Ganzen war die Umbauphase das Highlight meiner Kindheit.

Es hat natürlich auch seine Nachteile, wenn keiner nach einem schaut. Als ich ins Gymnasium kam, war ich die einzige, die keine Schulbücher hatte. Irgendwie hätte man sich vorab darum kümmern müssen, was aber aufgrund eines Missverständnisses unterblieb. Damals habe ich gelernt: Verlass dich auf niemanden. Wenn etwas erledigt werden muss, mach es selber.

Wieder hieß es: Du musst jetzt zurückstecken


Das Haus war irgendwann fertig, aber übergangslos fand sich etwas Neues, das wichtiger war als ich. Meine Großmutter wurde ein Pflegefall. Und wieder hieß es: „Du musst jetzt zurückstecken. Deine Eltern müssen sich um die Oma kümmern. Da werden sie keine Zeit haben für dich.“

Jetzt war das schon schwieriger. In der Pubertät hätte ich ab und zu schon einen erwachsenen Ansprechpartner gebraucht, der nicht gleich erschöpft und genervt abwinkte, wenn ich daherkam. „Statt dass du deine Mutter entlastest, brauchst du sie selber noch!“, musste ich mir zu der Zeit vorwerfen lassen. Ja, aus Erwachsenensicht war da sicher was dran. Ich war damals aber nicht erwachsen. Ich war noch nicht imstande, meine Mutter als überlastete Person wahrzunehmen, die Hilfe brauchte. Ich hatte eine Heidenangst vor ihr.

Zehn Jahre dauerte die Pflege meiner Großmutter und ich hab meine Mutter nie anders als überfordert, unberechenbar und jähzornig erlebt. Als Kind hab ich die Hälfte der Zeit nicht gewusst, wofür ich jetzt verdroschen wurde. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass meine Mutter mich vielleicht gar nicht aus Hass oder Bosheit misshandelt, sondern weil sie mit den Nerven am Ende ist und dass es vielleicht eine guter Einfall wäre, sie bei ihrer vielen Arbeit zu unterstützen.
Als Teenie hab ich mich so gut wie möglich unsichtbar gemacht, um allem Ärger aus dem Weg zu gehen. Warum die Situation daheim so war, darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich kannte es ja nicht anders.

Pflegefall reiht sich an Pflegefall


Nach dem Tod meiner Großmutter können allenfalls ein paar Monate ins Land gegangen sein, bis meine Mutter den nächsten Pflegefall in der Familie zu versorgen hatte. Und dann noch einen. Ich weiß noch, dass ich sie regelmäßig ins Krankenhaus und ins Nachbardorf kutschiert habe, weil sie ja keinen Führerschein hatte. Das zog sich über weitere sieben Jahre, und ich zog irgendwann aus.

Jetzt gab’s zwar keine Pflegefälle mehr, dafür aber andere Krisen.

Zwischen meinem 30. Und 40. Lebensjahr lief’s eigentlich ganz gut. Dann wiederholte sich das Spiel, nur mit anderen Protagonisten. Jetzt war ich es selber, die sich sagte: „Meine Mutter ist schwer krank. Dahinter muss alles andere erst einmal zurückstehen.“ Seither geht es ohne Pause. Erst die Mutter, dann der Mann, jetzt mein Vater …

Manchmal denke ich, vielleicht sollte man sich an gar niemanden binden. Man kann sich noch so anstrengen und zum Wohle seiner kranken Angehörigen jahrzehntelang die eigenen Bedürfnisse zurückstellen – am Ende sterben sie doch. Dann war irgendwie alles für die Katz. Und für das eigene Leben bleibt nur noch eine magere Restlaufzeit.

Foto: (c) Initiative Echte Soziale Marktwirtschaft (IESM) / pixelio.de
Foto: (c) Initiative Echte Soziale Marktwirtschaft (IESM) / pixelio.de

Foto: Initiative Echte Soziale Marktwirtschaft (IESM) / www.pixelio.de

4 Kommentare

  1. Ja, das stimmt natürlich. Wenn alle so denken würden, wär‘ die Menschheit ja auch längst ausgestorben. Manchmal packt mich einfach der Frust, wenn ich sehe, dass knapp 60 Prozent meines bisherigen Lebens von der Sorge um todkranke Menschen dominiert wurden.

  2. Die Kindheit ist für alle Menschen DIE prägende Phase und sie begleitet uns ein ganzes Leben. Und in den seltensten Fällen ist es die sogenannte SCHÖNE Kindheit. Angst vor der überforderten Mutter, Schläge und Vernachlässigung…das ist erschütternd genug. Bei mir war es anders und doch ganz ähnlich: Angst vor einem sehr cholerischen Vater, keine Schläge aber „verbale Rundumschläge“ (du stures Stück, du kannst das nicht, du wirst immer scheitern). Vernachlässigt wurde ich nicht, sondern im Gegenteil ÜBERBEHÜTET. Was ist schlimmer, ich weiß es nicht. 10 Jahre lang (dann kam noch mein Bruder zur Welt) stand ich im intensiven Mittelpunkt der Familie und sollte bestimmten Erwartungen entsprechen – was ich natürlich nicht tat. Nicht mit Aufruhr und Trotz, sondern weil ich anders war und andere Interessen hatte. Immer habe ich funktioniert, mich angepasst, war „brav und folgsam“. Ein „liebes Mädchen“, was selten Kind war, stattdessen eine kleine Erwachsene.

    Beide Schicksale haben etwas gemeinsam: Wir haben die gleichen Schlüsse daraus gezogen ! „Sich unsichtbar machen, um dem Ärger aus dem Weg zu gehen“… diese Aussage könnte auch von mir sein. „Verlass dich auf niemanden…mach es selber“… so lautet mein Lebensmotto. Hinzufügen könnte ich noch: Was immer deine Wünsche sind – erfülle sie dir selber. (Soweit das möglich ist…)

    Ganz schwierig wird es natürlich bei der Pflege von Eltern oder anderen Angehörigen. Ich erlebe ja nun seit rund 30 Jahren, wie sehr die Krankheiten meines Mannes unser Leben bestimmen. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem er pflegebedürftig werden könnte.

    Liebe Frau Nebel, es tut mir sehr leid, dass sie nun offensichtlich sehr mit dem kranken Vater beschäftigt sind. Um so erstaunlicher, wie viele Dinge sie noch nebenher schaffen!!
    Neben der Fürsorge gibt es hoffentlich noch einige ruhige Momente – das wünsche ich aus vollem Herzen!

    Liebe Grüße
    M.B.

  3. Es ist mehr so die ständige Sorge im Hinterkopf, die mir zu schaffen macht. Zwei Monate war’s jetzt wirklich heftig, weil wir teilweise jeden oder jeden zweiten Tag ins Krankenhaus fahren mussten. Das wäre nicht das Drama, hätte ich nicht einen Vollzeitjob, in dem gerade im Herbst absolute Hochsaison ist. War ich hier, hätte ich dort sein müssen und umgekehrt. Und jeder wundert sich, dass ich noch andere Verpflichtungen habe.

    Immer wenn’s Telefon schellt und ich sehe, dass jemand von der Familie dran ist, spring ich aus dem Sessel vor Schreck. Sie sagen schon alle: „Keine Sorge, ist nichts Schlimmes … XY hat geschrieben/war da, dies und das ist erledigt“.

    So wirklich unbeschwert und ohne Sorge ist man wahrscheinlich als Erwachsener nie.

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