Erik Raidt, Michael Luz: Der ganz normale Wahnsinn

Erik Raidt, Michael Luz: Der ganz normale Wahnsinn, Stuttgart 2016, Belser Verlag und Stuttgarter Zeitung, ISBN 978-3-7630-2735-4, Hardcover, 128 Seiten mit großformatigen farbigen Illustrationen, Format: 19,2 x 2 x 22,1 cm, EUR 19,99.

Abbildung: (c) Belser Verlag
Abbildung: (c) Belser Verlag

„In der Kolumne ‚Raidt scheibt’ reist [der Autor] für die Stuttgarter Zeitung gedanklich durch das wilde Land Absurdistan, in dem wir alle leben. Manche, ohne es zu ahnen: Absurdistan ist unser Alltag.“ (Seite 4)

In seiner wöchentlichen Zeitungskolumne verfasst Erik Raidt fiktive Briefe an ausgewählte Empfänger, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie machen unser Leben noch ein kleines bisschen absurder. Nationen und Berufsgruppen, Unternehmen und Institutionen, Tiere und Prominente, Veranstaltungen, Jahreszeiten und Feiertage, ja selbst schnöde Gegenstände wie ein Kabel, ein Kalender, ein Koffer oder eine Toilette dürfen sich zu dem erlauchten Empfängerkreis seiner „Briefe“ zählen.

Fiktive Briefe zum Grinsen und Grübeln


Ob sich die Auserwählten Raidts Anschreiben hinter den Spiegel stecken werden, ist freilich fraglich. Die Manager, die er hier so wortgewandt bedauert, werden sich vermutlich eher verschaukelt fühlen. Und auch der Zuspruch, der den „lieben Griechen“ zuteil wird, ist in Wahrheit keiner. Aber grinsen muss man – und ins Grübeln kommt man auch.

Was stellenweise daherkommt wie die Ode an ein berühmtes nordisches Möbelhaus, sagt klar, was Sache ist: Der Kunde macht mehr und mehr die Arbeit und das Unternehmen kassiert. „Erst wurden wir Aushilfsschlepper, dann entwickelten wir und weiter zu Rückwandnaglern, Stehlampenstützern und Lattenrostquetschern. Jetzt haben wir evolutionsgeschichtlich als Kassiererinnen und Kassierer eine neue Stufe erklommen.“ (Seite 30)

An der vielzitierten Servicewüste kann man schon irre werden – ob man nun den Kampf mit einer Telefonhotline aufnimmt oder sich an der Installation eines beliebigen Geräts der Unterhaltungselektronik versucht. So spricht der Autor mit seinem Brief an das „liebe Koaxialkabel“ sicher vielen aus der Seele. Schon nach dem ersten Blick in die Bedienungsanleitung ahnt er, dass das wohl nichts werden wird: „Beim Lesen fühlte ich mich wie Methusalix, der sich aus Versehen in einen Szeneclub verirrt hatte. Liebes Koaxialkabel, ich wollte nur fernsehen und nicht lernen, wie man den neuen A 380 der Lufthansa fliegt.“ (Seite 33)

Kritik und Geblödel


Raidt macht sich witzig-kritische Gedanken über Feng Shui und Matratzenläden, Schulkantinen und die Uni-Mensa und blödelt über die korrekte Pluralform von „Krokus“. Wir erfahren, dass man künftig mittels Weindorf-App den Verstand, der einem Viertele-Trinken abhanden gekommen ist, wieder hochladen kann. Das klingt natürlich gut und wir glauben gern, dass das Weinfestpublikum von dieser Neuerung begeistert ist. 😉 Er (über-)spannt den Bogen von Wanderkröte zu Wanderhure, dass der Leser nur so staunt. Und den Schwaben bringt er zur Kenntnis, dass Grasdackel *) nicht hundesteuerpflichtig sind.

Manche Beiträge sind Stuttgart-spezifisch, weil es darin um regionale Ereignisse, Veranstaltungen, Unternehmen oder um Stuttgart 21 geht. Dieser Regionalbezug hält sich allerdings in Grenzen. Der Großteil des hier angesprochenen Alltagswahnsinns kommt in der gesamten Bundesrepublik vor und dürfte sich selbst in den Nachbarländern noch für komplizenhaftes Schmunzeln und verständnisvolles Nicken sorgen.

Gezeichnete Wortspiele als Illustration


Erik Raidts Textbeiträgen werden Zeichnungen von Michael Luz zur Seite gestellt. Dabei hat man sich aus Luz’ „Tagesillustrationen“ bedient, einem künstlerischen Projekt, in dem er täglich einen Begriff, ein Wortspiel oder auch mal einen fiesen Kalauer zeichnerisch umsetzt. Die Bilder in dem Buch passen thematisch stets zum Text, wurden aber nicht eigens für diesen Zweck erstellt. Sie sind also keine direkte zeichnerische Umsetzung des Inhalts.

Ich folge Michael Luz seit längerem bei Facebook und bin immer wieder überrascht und amüsiert über seine Einfälle. Was er unter einer „Flatrat“ verseht, unter „Oberkiefer“ oder einer „Spaßbremse“ ist wirklich zum Piepen. Er ersinnt und zeichnet „Peacenelken“, „Gieraffen und einen „Greisverkehr“. Und seine Interpretation von „Summernight“, „Kuvertüre“, „Krabbelgruppe“ und „Rehrücken“ sind verblüffend und saukomisch. Wie Michael Luz den Wahnsinn des Alltags in Szene setzt, das passt wunderbar zu Erik Raidts Texten.

Das vorliegende Buch ist eines, dass alle 5 Sinne anspricht: Wahnsinn, Unsinn, Blödsinn, Irrsinn – und Hintersinn.

*) Grasdackel = ein beliebtes regionales Schimpfwort. So etwa ähnliches wie ein Depp.

Der Autor
Erik Raidt ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Wöchentlich erscheint hier seine Kolumne „Raidt schreibt“. Er ist Autor von Sach- und Kinderbüchern und wurde mit dem Konrad-Adenauer-Preis für Lokaljournalismus ausgezeichnet.

Der Illustrator
Michael Luz arbeitet in seinem Stuttgarter Atelier für verschiedene Agenturen und Verlage. Was 2010 als tägliche Fingerübung begann, entwickelte sich in den letzten Jahren zum Kunstprojekt: Die Tagesillustrationen – illustrierte Wortspiele und Begriffe – präsentiert Luz täglich auf seinen Seiten www.tagesillustrationen.de und www.michaelluz.de.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

http://www.boxmail.de

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