Menno Schilthuizen: Darwin in der Stadt. Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel

Menno Schilthuizen: Darwin in der Stadt. Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel, OT: Darwin Comes to Town. How the Urban Jungle Drives Evolution, aus dem Englischen von Kurt Neff und Cornelia Stoll, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28990-0, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 363 Seiten mit 20 s/w-Abbildungen Format: 16,2 x 3 x 23,1 cm, Buch: EUR 22,90, Kindle: EUR 19,99.

Abbildung: (c) dtv Verlagsgesellschaft

„(…) Im gleichen Maß, wie der ökologische Fußabdruck des Menschen größer wird, schrumpft die natürliche Welt um uns herum zusammen, verändert sich und wird ärmer. Aber so biologisch verarmt diese urbanen Ökosysteme auch sein mögen, sie sind noch immer genau das: Ökosysteme – mit echten Organismen, verbunden in echten Nahrungsnetzen, wo echte Ökologie und echte Evolutionsprozesse stattfinden können.“ (306)

Natürlich hätte man das Thema „Evolution im Großstadtdschungel“ auch staubtrocken abhandeln können. Aber Menno Schilthuizen betet keine Fakten herunter, er erzählt Geschichten … von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und deren Arbeit, von Tieren und Pflanzen, von seinen eigenen Forschungsreisen, vom Schreiben an diesem Buch, Anekdoten aus seiner Jugend und von seiner Familie. Das macht er sehr unterhaltsam und witzig, und – zack! – ist man ein kleines bisschen schlauer geworden und hat gar nicht gemerkt, wie das vonstatten gegangen ist.

Sympathische Wissensvermittlung


Wenn er uns LeserInnen mal notgedrungen mit einer gewissen Menge an Fachvokabular konfrontieren muss, weil das nun mal für das Verständnis eines bestimmten Vorgangs notwendig ist, entschuldigt er sich bei uns dafür. So im Sinne von „Sorry, Leute, aber das muss jetzt leider sein. Gleich werdet ihr sehen, warum“. Ich finde, das ist eine sehr sympathische Art der Wissensvermittlung.

Was also lernen wir hier? Als erstes, dass Darwin sich in einem Punkt irrte: Für ihn war Evolution ein langsamer Vorgang, der in einem einzelnen Menschenleben nicht wahrzunehmen war. Vielleicht verstand er nicht genug von Mathematik, um berechnen zu können, wie lange die natürliche Selektion braucht, um eine merkliche Wirkung zu zeigen. Erst in den 1920er Jahren haben mathematische Biologen sich der Frage angenommen und festgestellt, dass wir sehr wohl der Evolution beim Arbeiten zuschauen können. Dazu trägt auch der Mensch bei, der massiv in die Umwelt eingreift und Bedingungen schafft, auf die Tiere und Pflanzen sich besser schnell einstellen, wenn sie dort überleben wollen. Beispiele gibt’s dafür in Hülle und Fülle. Dazu komme ich gleich.

Der Mensch als Ökosystem-Ingenieur


Überraschend fand ich, dass hier gar kein Unterschied gemacht wird zwischen der Natur und den von Menschen gestalteten Lebensräumen. Schilthuizen betrachtet den Homo sapiens nicht anders als Termiten, Korallen oder Biber: als „Ökosystem-Ingenieure“. Wir alle bauen unsere „Nester“ aus Materialien, die wir aus unserer Umwelt beziehen – ob das der Umwelt nun passt, nutzt oder schadet. Eine moderne Millionenstadt ist für ihn ein neuartiges ökologisches System.

Das leuchtet ein. Bei diesem Vergleich darf man natürlich nicht vergessen, dass der Mensch seine Umwelt in einem viel größeren Maßstab umkrempelt als (andere) Tiere es tun. im Verlauf von nur wenigen Jahrtausenden ist unsere Ingenieurstätigkeit um mehrere Potenzen gestiegen. Und das hat Konsequenzen.

Durch unsere Bautätigkeit zerschneiden wir Lebensräume von Tieren, die sich dann isoliert von ihren Verwandten weiterentwickeln. Wir reisen und schicken Waren rund um die Welt und schleppen so, absichtlich und unabsichtlich, Tiere und Pflanzen von einem Lebensraum in einen anderen ein. Die besetzen dort flugs irgendwelche Nischen und zwingen einheimische Arten zur Anpassung.

Wir überziehen die Welt mit unserem Lärm, und die Tiere, die sich auf akustischem Weg miteinander verständigen, müssen zusehen, wie sie das nun bewerkstelligen. Wie sollen denn Vögel ihre Partner finden, wenn diese vor lauter Krach den Balzgesang nicht hören können?

Und was, wenn in der städtischen Umgebung auf einmal ganz andere Fähigkeiten bzw. Eigenschaften gefordert sind als vorher im Wald und auf dem Feld? Dann müssten sich ja die Auswahlkriterien bei der Partnerwahl ändern. Artgenossen mit einer anderen genetischen Ausstattung als der bisher präferierten werden auf einmal attraktiv, erhalten eine höhere Chance auf Fortpflanzung – und die Art verändert sich. Nach ein paar Generationen hat ein Old-School-Verwandter vom Land überhaupt keine Chancen mehr. Den haben die gar nicht mehr als möglichen Partner auf dem Schirm.

Evolution zum Zuschauen


Ein Beispiel für die rasche Anpassung einer Tierart an die vom Menschen veränderte Umwelt ist der Industriemelanismus des Birkenspanners. Diese nachtaktiven Falter sitzen tagsüber meist auf Birkenstämmen und warten auf die Dämmerung. Durch ihre Färbung – weiß mit dunklen Punkten und Streifen – fallen sie vor diesem Hintergrund kaum auf und sind deshalb vor Fressfeinden relativ sicher. Doch durch die Umweltverschmutzung Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Färbung auf einmal zum Nachteil. Auf verrußten, dunklen Baumstämmen fielen die hellen Falter auf, und die, die durch eine Genmutation schwarze Flügel hatten, waren auf einmal besser getarnt und im Vorteil. Ende des 19. Jahrhunderts war das ursprüngliche Gen für helle Flügeln in vielen Birkenspanner-Populationen kaum mehr vorhanden. Erst als im 20. Jahrhundert durch Umweltschutzmaßnahmen die Luft wieder sauberer wurde und es keine rußgeschwärzten Bäume mehr gab, entwickelte sich die Flügelfärbung wieder zurück zu weiß mit dunklen Punkten und Streifen. Heute ist die dunkle Form der Birkenspanner genauso selten wie 1848.

Das ist ein bekanntes, aber eben auch sehr plakatives Beispiel für „Evolution zum Zuschauen“. Man findet hier im Buch natürlich noch mehr. Ob Pflanzen, Insekten, Echsen, Mäuse, Vögel … sie alle passen sich auf die unterschiedlichsten Arten an die vom Menschen geschaffenen Gegebenheiten an. Wenn nicht, ist es ihr Untergang.

Genetisch bedingt oder erlernt?


Aber haben auch alle Veränderungen etwas mit Genetik zu tun? Ist manches nicht eher erlerntes Verhalten, das innerhalb einer Population weitergegeben wird? Meisen werden mit immer neuen Varianten von Milchflaschen-Deckeln fertig, weil sie partout den Rahm trinken möchten. Japanische Aaskrähen benutzen Autos als „Nussknacker“ und haben sogar gelernt, die Ampelphasen zu nutzen und nur bei Rot auf die Fahrbahn zu hüpfen um Nüsse vor den Autos zu platzieren und die Beute hinterher abzuholen.

Nicht nur Vögel sind lernfähig, Fische auch! In einer besonders dramatischen Szene beschreibt der Autor, wie sich ein Wels eine Taube schnappt, sie unter Wasser zieht und frisst. Auch keine alltägliche Verhaltensweise für einen Raubfisch! Ich hatte beim Lesen schon die Filmmusik von DER WEISSE HAI im Ohr, als im Buch der Satz fiel: „Die musikalische Untermalung des Geschehens müssen Sie Ihrer Vorstellungskraft anvertrauen.“ (S. 198) 😀

Ob ländliche und städtische Tiere tatsächlich unterschiedliche Gene tragen, steht zur Debatte, bzw. müsste untersucht werden. Um neu auftretende Probleme zu lösen und unter veränderten Bedingungen zu überleben, ist es auf jeden Fall von Vorteil, wenn das Tier nicht übervorsichtig ist. „Am besten sollte es neophil sein: willig, sich allem Außergewöhnlichen zu nähern und es zu untersuchen. Kurz, es sollte von Natur aus neugierig sein.“ (Seite 223)

Verändert sich denn auch der Mensch?


Ob auch der Mensch aufgrund der fortschreitenden Urbanisierung evolviert, ist eine berechtigte Frage. Es gibt Hinweise darauf, dass sich in den letzten 2 Jahrhunderten ein bisschen etwas verändert hat, aber allzu dramatisch scheint mir das nicht zu. Interessanter wäre vielleicht, wie sich die Stadtplanung die Kraft der Evolution bei ihrer Gestaltung der urbanen Ökosysteme zunutze machen könnte. Zu welchen Schlüssen der Autor kommt, erfahren wir im 20. Kapitel. (Das jetzt zu komplex, um es hier verkürzt wiederzugeben.)

„Ich hoffe, die Lektüre dieses Buches hat Ihnen die Augen geöffnet für die Wunder (…) des menschengemachten schnellen evolutionären Wandels“, schreibt der Autor im letzten Kapitel. „Nicht zuletzt wollte ich erreichen, dass die Stadtorganismen, die Sie auf ihren täglichen Wegen durch das urbane Gebiet sehen, für Sie nun ungewöhnlicher, interessanter, mehr als eines beiläufigen Blickes würdig sind.“ (Seite 307). Ich denke, das ist ihm gelungen.

Gelungen ist auch die Übersetzung von Kurt Neff und Cornelia Stoll. Wüsste man nicht, dass das kein ursprünglich deutscher Text war, würde man nicht drauf kommen. Die Übersetzer finden immer eine überzeugende deutsche Entsprechung für das, was der niederländische Autor ursprünglich mal auf Englisch geschrieben hat.

14 Seiten mit Anmerkungen, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein zehnseitiges Register „verraten“ den wissenschaftlichen Autor und runden den Band ab.

Der Autor
Prof. Dr. Menno Schilthuizen, Jahrgang 1965, forscht am »Naturalis«, dem niederländischen Zentrum für Biodiversität, und ist Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Leiden. Er hat zahlreiche Fachveröffentlichungen sowie populärwissenchaftliche Bücher vorgelegt und schreibt für Zeitschriften wie ›Natural History‹, ›New Science‹, ›Science‹ oder das niederländische Handelsblatt.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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Ein Kommentar

  1. Noch kämpfe ich mit dem neuen WordPress-Editor, dem „Gutenberg“. Wenn also einzelne Beiträge hier auf der Seite etwas strubbelig aussehen, liegt es daran, dass ich noch übe. Im Moment dauert noch alles zehnmal so lange wie in der vertrauten Umgebung und ich fluche beim Arbeiten den Putz von der Decke. Aber wenn man den Editor mal beherrscht, soll er ganz toll sein, sagen sie. 😀

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