Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen

Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen, München 2019, Carl Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-26407-6, Hardcover mit Schutzumschlag, 220 Seiten mit s/w-Illustrationen von Johann Brandstetter, Format: 13,1 x 2,5 x 20,8 cm, Buch: EUR 20,00 (D), EUR 20,60 (A), Kindle: EUR 15,99.

Abb. (c) Carl Hanser Verlag

„Eichhörnchen sind reizvolle Tierchen. (…) Das hier Zusammengestellte ist noch längst keine umfassende Schilderung ihres Lebens. (…) Denn je tiefer wir an irgendeiner Stelle in ihr Leben hineinblicken, desto mehr Fragen tun sich auf. Schnell wird klar, dass bloßes Beobachten nicht ausreicht, über den Energiehaushalt oder die Verwertung der Nahrung erfahren mit noch so intensivem Schauen zu wenig.“ (Seite 162)

Aufgrund eines Presseberichts hatte ich den Eindruck gewonnen, in diesem Buch schildere uns der Autor seine persönlichen Eichhörnchen-Beobachtungen und reichere seine Beschreibungen mit interessanten weiterführenden Informationen an. Aber hier liegt keiner wie die Naturforscher im Fernsehen auf der Lauer. Persönliche Beobachtungen gibt’s nur im letzten Kapitel – und da geht’s nicht um Eichhörnchen, sondern um Siebenschläfer. Der Rest ist eine sehr wissenschaftliche und bisweilen recht trockene Angelegenheit.

Eine Fülle von Daten, Zahlen und Fakten

Die faszinierenden Informationen, die es natürlich gibt und die uns der Autor mit einer Menge Sachverstand präsentiert, verstecken unter einer Fülle von Zahlen, Daten und Fakten. Ein*e durchschnittlich interessierte*r und vorgebildete*r Leser*in wie ich fühlt sich da ein bisschen überrollt. Das kann man weder dem Buch noch dem Autor ankreiden, eher schon der Vermarktung. In diesem Buch steht einfach viel mehr als der Normalbürger wissen will. Das merkt er aber erst, wenn er das Buch schon gekauft hat.

Auf unsere einfachen Allerweltsfragen bekommen wir selbstverständlich kompetente und ausführliche Antworten.

  • Warum ist das Eichhörnchen so wuselig und hektisch? – Das liegt an der Zusammensetzung seiner Nahrung. Energie, die es nicht zum Aufbau (z.B. fürs Fell oder für den Nachwuchs) braucht, muss es irgendwie abbauen. Es darf ja nicht dick werden.
  • Wozu hat das Tier einen so einen buschigen Schweif? – Unter anderem zum Schutz vor Fressfeinden. Die haben bei einem Angriff nur das Maul bzw. den Schnabel voller Haare und das Eichhörnchen springt ansonsten unversehrt davon.
  • Wieso gibt’s fuchsrote, dunkelbraune und sogar schwarze Eichhörnchen? Sind das verschiedene Rassen? – Das nicht. Es hatte mal was mit Tarnung und spezifischen Lebensräumen zu tun.
  • Weshalb ziehen Eichhörnchen das Leben in Parks dem Leben im Wald vor? – Dafür sprechen Nahrung und Sicherheitsgründe.
  • Wie bildet sich das Sommer- und das Winterfell? – Auch das hat mit der Verfügbarkeit von Nährstoffen zu tun.
  • Vor allem für meine schwäbischen Landsleute interessant: Warum sagt man „Der Teufel ist ein Eichhörnle“? Den Spruch kenne ich. Der Hintergrund war mir unbekannt.

Noch nie habe ich das Sammeln und Verstecken von Nahrung, wie die Eichhörnchen dies im Herbst betreiben, als „externe Energieversorgung“ und „ausgelagerten Winterschlaf“ gesehen. Aber, doch, das leuchtet ein. Die Eichhörnchen können es sich bei ihrer Lebensweise nicht leisten, sich für einen Winterschlaf Fett anzufressen. Sie würden dann zu unbeweglich und wären für ihre Feinde leichte Beute. Also bunkern sie ihre Energiereserven draußen  und greifen im Winter darauf zurück.

Die Abhängigkeit der Populationsstärke von verfügbarer Nahrung ist jetzt nicht neu: Reiche Ernte von Nüssen & Co.: viel Nachwuchs. Was sich in mageren Jahren wieder von selbst reguliert. Das ist nicht nur bei den Eichhörnchen so. Doch darüber, was der Nussbaum und der Haselnussstrauch davon haben, dass die Eichhörnchen ihre Früchte gerne fressen, und wie eine Nuss beschaffen sein muss, damit die Verbreitung der Samen funktioniert, hatte ich noch nie zuvor nachgedacht.

Will’s der Leser so genau wissen?

Die Vergleiche der Eichhörnchen mit anderen Säugetieren, unter anderem mit dem Menschen, sowie mit   V ö g e l n   habe ich anfangs zwei, drei, fünfmal gelesen – und dann beschlossen, dass es egal ist, ob ich die Werte und Prozentzahlen visualisieren und mir merken kann oder nicht. Es wird mich niemand abfragen. Natürlich will ein Wissenschaftler, das was er behauptet, auch sauber belegen. Der interessierte Laie dagegen will das vermutlich gar nicht so genau wissen.

50% des Buchs widmen sich dem heimischen Eichhörnchen, ca. 15% der Hörnchen-Verwandtschaft auf der ganzen Welt wie z.B. den nordischen Flughörnchen, Zieseln, Grauhörnchen, Hamstern, Ratten, Mäusen, Bisamratten und Bibern. Das gibt faszinierende Einblicke in verschiedene Hörnchen-Leben. Unter anderem stellt sich die Frage, ob die in Großbritannien eingewanderten Grauhörnchen wirklich als Aggressoren zu betrachten sind, die die einheimischen Eichhörnchen verdrängt haben und ob es sinnvoll und gerechtfertigt ist, die Zuwanderer mit aller Macht ausrotten zu wollen. Dazu hat der Autor eine spezielle Meinung – wie generell zum Verhältnis des Menschen zur Natur. Das ist durchaus bedenkenswert.

Witziges und Wissenschaftliches über den Siebenschläfer

Die restlichen 35% des Buchs sind dann so, wie der unbedarfte Leser sich das ganze Werk vorgestellt hat: Der Autor berichtet anschaulich von der Erfahrung, die er als Student mit einem von Hand aufgezogenen verwaisten Siebenschläfer gemacht hat, und jubelt uns mit diesen zum Teil saukomischen Anekdoten klammheimlich Sachwissen unter. Das ist bei weitem der unterhaltsamste Teil des Buchs, und es bleibt auch Wissen hängen. Das letzte Kapitel baut natürlich auf die vorangegangenen auf. Jetzt ernten wir die Früchte der etwas faderen Passagen aus dem ersten und zweiten Teil. J

Die zarten und detailreichen Illustrationen von Johann Brandstetter sind sehr hilfreich und informativ. Es hätten auch gerne noch ein paar mehr sein dürfen.

Informationen auf hohem Niveau

Ich hatte mir das Buch unterhaltsamer und „volksnäher“ vorgestellt. Es liefert Informationen auf hohem Niveau. Das ist etwas für Fortgeschrittene. Wenn das dem Leser klar ist, ist das Buch spitze. Der Feld-Wald- und Wiesen-Tierfreund, der nur ein bisschen mehr über die possierlichen Tierchen wissen will, die in seinem Garten oder über seinen Spazierweg hüpfen, ist damit aber leicht überfordert.

Der Autor

Prof. Dr. Josef H. Reichholf, Evolutionsbiologe, war bis April 2010 Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und Professor für Ökologie und Naturschutz an der Technischen Universität München. Er war zudem viele Jahre lang Mitglied der Kommission für Ökologie der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) und des Vorstands/Präsidiums des World Wide Fund for Nature (WWF) Deutschland. Daher ist er mit der nationalen wie auch der globalen Problematik der Erhaltung von Großtieren vertraut.

Umfangreiche eigene Erfahrungen sammelte er auf Forschungsreisen nach Südamerika, Afrika und Südasien. Der Autor von Büchern über Naturschutz, Ökologie und Evolution ist Träger der „Treviranus-Medaille“, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Biologen, und des Grüter-Preises für Wissenschaftsvermittlung. 2007 wurde er zudem mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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