Harald Lesch, Ursula Forstner: Wie Bildung gelingt. Ein Gespräch, Darmstadt 2020, wbg Theiss, ISBN 978-3-8062-4083-2, Hardcover mit Schutzumschlag, 144 Seiten mit 29 s/w-Illustrationen, Format: 14,2 x 1,7 x 22,1 cm, EUR 20,00.
Lesch: Wenn du dir heute anschaust, wie in Mitteleuropa Schulen aussehen: Die Kinder gehen morgens hin (…) und dann sitzen sie da und kriegen was eingetrichtert. (…) Ist das ein Wissenskonzept, das auf irgendeine philosophische Strömung zurückgeht? Oder ist das (…) nur Learning by Doing, wo sich halt mal ein paar Pädagogen Gedanken gemacht haben, wie Schule aussehen soll, und seitdem reformieren sie munter daran herum(…)?
Vossenkuhl: (…) Ich glaube nicht, dass man da eine bestimmte Philosophie im Hintergrund vermuten kann.
Lesch: Gar nix?! Also die machen einfach irgendwas?!“ (Seite 49)
Dieses Sachbuch liest sich wie das Protokoll einer Diskussion. Harald Lesch ist hier einer von vier Gesprächsteilnehmern – dank seiner Fernsehpräsenz der wohl prominenteste. Mit ihm diskutieren die Philosophin Ursula Forstner, der emeritierte Professor für Philosophie Wilhelm Vossenkuhl und der Mathematikdozent und Philosoph Alfred North Whitehead (1861-1947). Letzterer ist naturgemäß nur mit Zitaten und fiktiven Diskussionsbeiträgen vertreten, aber für mich der heimliche Star der Runde.
Kluge Gedanken über Wissen und Bildung
Whitehead hat sich vor 100 Jahren schon kluge Gedanken über Wissen und Bildung gemacht. Im Gespräch mit den Expert*innen von heute zeigt er sich des Öfteren enttäuscht und entsetzt darüber, dass wir auf dem Bildungssektor längst nicht so große Fortschritte gemacht haben, wie er es sich erhofft hatte.
Einen philosophischen Unterbau hätte ich jetzt gar nicht verlangt. Aber ich bin ja auch keine Fachfrau, nur eine „Endverbraucherin“, die Bildung für wichtig hält. Dass jemand darüber nachdenkt, welches Wissen man sinnvollerweise vermitteln sollte und wie man das am besten anstellt, damit bei den Schüler*innen und Studierenden auch etwas hängenbleibt, das erwarte ich aber schon. Findet das statt? Und denken die Verantwortlichen auch das Richtige? Whitehead bezweifelt das. Und da wir nicht wesentlich weiter sind als zu seiner Zeit, zweifeln die anderen drei auch.
Für den Geschmack der Diskussionsteilnehmer wird zu viel totes Wissen vermittelt. Darunter verstehen sie Informationen, die in keinem Bezug zur Gegenwart stehen. Whitehead kommentiert das so: „Das Einpauken von allgemeinen Aussagen ohne Bezug zu den individuellen, persönlichen Erfahrungen der Schüler kann nur der Teufel erfunden haben!“ (Seite 38) Das kann jeder Mensch, der mal zur Schule gegangen ist, nachvollziehen. Ein bisschen lebensnäher dürfte mancher Unterrichtsstoff schon sein. Aber man wird nicht jeden da abholen können, wo er steht. Wer nach der Entstehung der Welt fragt, für den ist Physik sicher spannend und faszinierend, wer den Hunger der Welt bekämpfen will, für den ist’s vielleicht eine irrelevante Ansammlung abstrakter Formeln.
Totes Wissen ist verplemperte Zeit
Oh, hätte ich Alfred Whitehead nur schon zu meiner Schulzeit gekannt! Ich hätte ihn mit Freuden zitiert: „Geschichte ohne Bezug zur Gegenwart ist totes Wissen, das kann man dann genauso gut auch gleich streichen, dann verplempert man keine Zeit damit.“ (Seite 40). Das hätte meine Lehrer*innen sicher nachhaltig verärgert. 😀 Ich hatte in der Tat nur einen einzigen Geschichtslehrer – einen ehemaligen Entwicklungshelfer –, der es geschafft hat, einen Bogen von seinem Stoff zur Gegenwart zu schlagen und uns klarzumachen, was es uns bringt, über die Vergangenheit Bescheid zu wissen. Ansonsten war’s so, wie Ursula Forstner beschreibt: „Statt Geheimnisse der Menschheit gab’s ein langweiliges Buch, mit langweiligen Texten und jeder Menge Zahlen, die man auswendig lernen musste.“ (Seite 71) Whitehead kennt das – und Frau Forstners Tochter kennt das auch. Und als Leser denkt man frustriert, dass das wohl bis ans Ende aller Tage so bleiben wird.
Forstner und Whitehead kommen zu dem Schluss, dass Bildung die Kunst sei, sich Wissen nutzbar zu machen. Da wäre es natürlich klasse, wenn man als Schüler erkennen würde, dass man mit dem, was man lernen soll, Probleme lösen kann. Wahlweise, dass es auf diesem Themengebiet total viel Spannendes zu entdecken gibt, weshalb es sich eine nähere Beschäftigung damit lohnt. Whitehead nennt diese Phase des Lernens „Romantik“. Wenn erst einmal das Interesse des Schülers geweckt ist, ist auch die nächste Phase, die „Präzision“ auch leichter zu ertragen. Das ist der weniger aufregende Teil, in dem man die Grundlagen erwerben und notgedrungen auch mal stur pauken muss. In der letzten Stufe, der „Verallgemeinerung“, hat ist man dann soweit, dass man das erworbene Wissen anwenden kann, was dann zu Erfolgserlebnissen führt.
Ist das Interesse geweckt, lernt der Mensch
Das kann ich bestätigen. Wurde in irgendeiner Form mein Interesse an einem Schulfach geweckt, habe ich auch das fadeste Zeug gelernt, weil ich mich in dem Thema auskennen wollte. Das war vor allem in Fremdsprachen und Biologie der Fall. Musste ich aber etwas lernen, zu dem ich keine Beziehung aufbauen konnte, war die Lage hoffnungslos. Mit Freuden hätte ich als dritte Fremdsprache Spanisch oder Russisch gelernt – aber es gab nur Französisch. Das war trotz Sprachbegabung ein Fiasko. In Physik war ich spätberufen. Das ergab für mich erst im Studium einen Sinn. Und siehe da, auf einmal ging’s.
Vermutlich kann jede*r Schüler*in ganz ähnliche Geschichten erzählen.
Natürlich sprechen wir von Allgemeinbildung. Spezialisierung findet erst später im Leben statt. Und so muss jeder von uns vieles mitlernen, was er nie wieder brauchen wird. Es wäre natürlich trotzdem schön, wenn das, was einem von Haus aus weniger am Herzen liegt, nicht staubtrocken, sondern in Form von „lebendigem“ Wissen vermittelt werden könnte. Zu meiner Zeit hat’s oft schon gereicht, wenn die Lehrkraft von ihrem Thema begeistert war. Mir sind heute noch die lebhaften Ausführungen meiner Geographie- und Chemielehrerinnen aus der Mittelstufe erinnerlich.
Das sind natürlich Idealvorstellungen. Ich will keinesfalls die Probleme und Herausforderungen, vor denen Lehrer*innen stehen, geringschätzen. Da gibt’s jede Menge Sachzwänge und Einschränkungen, die trotz aller Anstrengungen verhindern, dass alles nach Wunsch läuft.
Austausch zwischen Fantasie und Erfahrung
Auch an den Universitäten gibt’s noch Luft nach oben. Da träumt Alfred Whitehead vom Austausch zwischen Jung und Alt, zwischen dem Wissen und der Erfahrung der Dozent*innen und der Fantasie und dem Ideenreichtum der Studierenden. Das läuft auch nicht immer so rund. Statt Austausch ist die Wissensvermittlung oft eine Einbahnstraße, die Fantasie bleibt auf der Strecke und die Freiheit ebenfalls. Alfred Whitehead hört nicht gerne, dass die Bildungseinrichtungen von heute genau die Akademiker und Facharbeiter produzieren sollen, die der Arbeitsmarkt braucht. Damit, so sagt er, erhält man routinierte Pedanten, aber keine ideenreichen Pioniere, die die Welt braucht. Ohne Freiheit und Fantasie ist seiner Meinung nach eine Universität nichts wert.
Als er gar hören muss, dass Forschung und Lehre heutzutage getrennt sind, damit man sich besser auf die jeweilige Aufgabe konzentrieren kann, fährt er aus der Haut: „Das halte ich für ausgemachten Quatsch! Forschung ist unerlässlich, um dem Wissen eine gewisse Frische zu verleihen, ohne die erfolgreiche Lehre nicht möglich ist. Wissen hält sich kein bisschen besser als Fisch!“ (Seite 107)
Wer Bildung verweigert …
Auch übervolle Lehrpläne, Prüfungen und Prüfer kriegen ihr Fett weg. Und wir erfahren, was einen gebildeten Menschen ausmacht. Der muss nicht unbedingt einen Universitätsabschluss haben, wie Harald Lesch überzeugend ausführt.
Die Gespräche lesen sich überwiegend locker und interessant und man kann vielem aus eigener Anschauung zustimmen. Wie’s auf dem Bildungssektor besser laufen könnte, wissen wir jetzt. Wie wir da hinkommen können, das würde wohl dieses Rahmen des Buchs sprengen. Da müsste man das Bildungssystem vom Kopf auf die Füße stellen. Und das, denke ich, wird einfach nicht passieren.
Bildung ist aber nicht ausschließlich die Bringschuld von Schule und Universität. Wir selbst sind auch selbst in der Pflicht:
Whitehead: Ist es denn letztlich nicht eine Sünde, erreichbare Erkenntnis nicht erlangt zu haben? Wo Einsichten, Erkenntnisse, Wissen den Lauf der Dinge hätten ändern können, da wiegt Unwissenheit wie eine Schuld. Wer Bildung verweigert, frönt dem Laster der Ignoranz. (Seite 116)
Die Illustrationen
Die s/w-Illustrationen im Buch stammen aus einer Bilddatenbank und sind von verschiedenen Künstlern. Sie sind aber alle im selben Stil gehalten, sodass man denkt, das ist aus einem Guss. Das ist wirklich gut gemacht.
Die Autor*innen
Harald Lesch ist Professor für Astronomie und Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Dozent für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. In Sendungen wie alpha Centauri, Leschs Kosmos oder dem Youtube-Kanal Terra X Lesch & Co vermittelt er außerdem komplizierte Phänomene und Fakten leicht verständlich an ein großes Publikum. Wissensvermittlung und Bildung sind zwei seiner Herzensthemen.
Ursula Forstner studierte an der Hochschule für Philosophie in München. Dort lernte sie den Philosophen Alfred N. Whitehead (1861-1947) kennen und bringt nun seine »modern« anmutenden Überlegungen zur Bildung ins Gespräch mit Harald Lesch ein.
Wilhelm Vossenkuhl arbeitete nach der Promotion in Philosophie in München an der Universität in Cambridge, England, an seiner Habilitätion. Sieben Jahre lehrte er als Professor in Bayreuth. Von 1993 bis zu seiner Emeritierung 2011 war er Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Alfred North Whitehead (1861-1947) studierte Mathematik in Cambridge, wo er anschließend 26 Jahre lang als Dozent unterrichtete. Wenige Monate vor seinem 50. Geburtstag ging er nach London, wo er schnell wieder eine Dozentenstelle fand. Auf die ersehnte Professorenstelle musste er allerdings bis 1914 warten. Er war 63 Jahre als, als er England den Rückenkehrte und Professor für Philosophie an der Universität Harvard wurde.
Rezensentin: Edith Nebel
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