Karen Kliewe: Letzte Spur Ostsee. Ein Fall für Journalistin Arnold, München 2020, Piper-Verlag, ISBN 978-3-492-50349-5, Softcover, 385 Seiten, Format: 12 x 2,46 x 18,7 cm, Buch: EUR 16,00 (D), EUR 16,50 (A), Kindle: EUR 4,99.
Rerik an der Ostsee, 2016: Wegen einer Familienanzeige hat Rosemarie Hofmann (80 +) die Doppelseite einer 12 Jahre alten Regionalzeitung aufbewahrt. Enkelin Johanna „Ann“ Arnold (26), eine Journalistik-Studentin, die gerade zu Besuch ist, liest aus professioneller Neugier einen der alten Artikel. Zu ihrer Verblüffung entdeckt sie auf einem der Fotos eine junge Frau, die ihre Zwillingsschwester sein könnte. Ihr Name wird in dem Artikel nicht erwähnt. Ann ist wie elektrisiert: Ist das eine Verwandte, die man ihr, warum auch immer, bislang vorenthalten hat? Diese Frau muss sie auf jeden Fall kennenlernen!
Keine Ahnung, warum sie nicht einfach ihre Großmutter fragt. Die hat doch sicher schon von der Doppelgängerin gehört. Die Gemeinde hat kaum zweieinhalbtausend Einwohner, da kennt jeder jeden. Unwahrscheinlich, dass die frappierende Ähnlichkeit der beiden Teenager unbemerkt geblieben ist, vor allem nach dem Foto in der Zeitung. Ich habe einmal mitgekriegt, was passiert, wenn ein argloser Mitmensch einem Phantombild in der Presse ähnelt. Da war der Teufel los! Und der Ort, an dem das stattfand, war doppelt so groß wie Rerik. Aber gut.
Auf der Suche nach der Doppelgängerin
Ann kontaktiert die Journalistin, die damals den Artikel geschrieben hat, doch die erinnert sich nicht an den Namen der jungen Frau auf dem Bild. Sie wirkt weder sehr kompetent noch besonders motiviert und meldet sich nie wieder bei Ann. Warum das so ist und dass sie trotzdem weiter in der Sache recherchiert, wissen nur wir Leser*innen. Ann weiß das nicht und beschließt, selbst nachzuforschen. Hilfe bekommt sie, wenn auch nur online, von ihrer Mitbewohnerin in Paderborn, Marie. Die beiden sind noch jung, ja. Aber insbesondere Ann agiert schon recht naiv und unprofessionell.
Zu Anns Bekanntenkreis in Rerik gehören auch zwei Polizisten: Dorfsheriff Frederik „Fredde“ Steinmann und Polizeikommissar Marc Wendt, der seit einem Dienstunfall im Rollstuhl sitzt. Von ihnen erfährt sie, dass die Polizei auf einmal gut zu tun hat – mit einer vergifteten Kellnerin und einem erstochenen Lehrer. Einen unerklärlichen tödlichen Autounfall in einem Nachbarort gibt’s auch noch.
Drei Todesfälle und ein Cold Case
Auch wenn sein Chef es für ein Hirngespinst hält: Polizist Fredde ist davon überzeugt, dass die Todesfälle etwas mit Anns Nachforschungen zu tun haben. Wenn man genau hinschaut, gibt’s da Querverbindungen. Und plötzlich haben sie auch noch einen Cold Case an der Backe: Anns mysteriöse Doppelgängerin, von der alle dachten, sie sei damals nach einem Streit mit ihrem Freund in ihr Heimatland zurückgekehrt, ist dort niemals angekommen. Sie gilt seit 12 Jahren als vermisst. Hat sie sich nur abgesetzt und sich nie wieder bei ihren Angehörigen gemeldet? Ist ihr auf ihrer Heimreise etwas zugestoßen? Oder hat sie, egal, was ihr damaliger Freundeskreis behauptet, Rerik nie verlassen?
Schlimmer noch: Hat Ann mit ihren Nachforschungen einen Mörder aufgescheucht? Beseitigt er nach und nach alle, die etwas über die Vermisste sagen könnten? Wenn das so ist, dann ist auch Ann in Gefahr …
Auf den letzten 100 Seiten zieht die Spannung mächtig an.
Dem Täter zügig auf der Spur
Was aus der Doppelgängerin geworden ist, hat sich ja schon im Prolog angedeutet. Wer dafür verantwortlich ist, ahnt man bereits im ersten Viertel des Buchs. Allenfalls kurz kommt man ins Zweifeln, weil die Autorin im Verlauf der Geschichte in paar falsche Fährten legt. Doch die Gedanken des Täters, die immer wieder in die Handlung eingestreut sind, passen eben am besten zu dem zuerst Verdächtigten.
Ein paar Punkte …
Ein paar weitere Punkte gibt’s, mit denen ich in diesem Roman meine Schwierigkeiten hatte:
- Auch wenn der Ort von Urlaubern überlaufen ist: Meja, Anns Doppelgängerin hat sechs Wochen lang im Ortszentrum gewohnt. Da bleibt’s doch nicht aus, dass einer der Dörfler sie trifft, sie für Ann Arnold hält und sie anspricht. Da Meja kein Deutsch konnte, hätte sie nicht adäquat antworten können. Und darüber hätte man garantiert im Ort geredet.
- Hat in den vergangenen 12 Jahren nie jemand Ann für die verschwundene Meja gehalten? Die Vermisste hatte doch Kontakte im Ort und Ann wird doch sicher mal im „Casa di Mare“ gewesen sein, wo man Meja gut gekannt hat.
- Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin ihre Figuren nicht leiden kann. Manche beschreibt sie geradezu verächtlich. Jedes Mal, wenn Anns destruktiv-gehässige innere Stimme ihren Auftritt hat und sie gnadenlos niedermacht, zuckt man zusammen. Ist das noch der übliche „innere Kritiker“, der uns manchmal an unseren Entscheidungen zweifeln lässt, oder ist das schon etwas Pathologisches?
- Wenn alle Figuren ein bisschen daneben sind, fällt es einem als Leser*in schwer, sich mit ihnen zu identifizieren. Die Nebenfiguren Marie und Marc wirken ganz sympathisch, und das Schicksal der Eheleute Persson ist sehr berührend geschildert. Mit allen anderen würde ich nicht unbedingt etwas zu tun haben wollen.
Erster Band einer Reihe?
Wiederholt wird angedeutet, dass es bei Arnolds ein Familiengeheimnis gibt. Aufgelöst wird es nicht. Ich nehme also an, dass aus Ann Arnold eine Serienheldin werden soll und die Geschichte weitergeht. Da ist es ja ganz clever, die Leser*innen mit einem Mysterium zu ködern. Interessieren würde mich das jetzt schon, aber ich glaube, es ist für mich nicht Motivation genug, diese Reihe weiter zu verfolgen.
Die Autorin
Karen Kliewe wurde 1970 in Westfalen geboren, ist verheiratet und Mutter einer Tochter. Nach ihrer Ausbildung zur Fotografin studierte sie Visuelle Kommunikation, arbeitete als Illustratorin, Grafik-Designerin und Fotografin. Ihr Debüt „Letzte Spur Ostsee“ erschien im Mai 2020 und bildet den Anfang einer Serie um die Journalistin Johanna Arnold.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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