Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid. Roman

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid. Roman, München 2021, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28273-4, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 366 Seiten, Format: 14,5 x 3,8 x 21,6 cm, Buch: EUR 22,00 (D), EUR 22,70 (A), Kindle: EUR 18,99. Auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) dtv

Berlin, heute: Die etwas eigenbrötlerische Hannah Borowski, Ende 20, hat Germanistik studiert und arbeitet nun mit mäßigem Elan an ihrer Dissertation. Sie hat ein Verhältnis mit ihrem verheirateten Doktorvater, keine Freunde, keine Ziele, und alles, was ihr von ihrer Familie geblieben ist, ist ihre Omi, 94, die sie allwöchentlich in der Seniorenresidenz besucht.

Diese „Omi“, Frau Dr. med. Evelyn Borowski, ist ein ganz schön harter Knochen. Weniges findet Gnade vor ihrem kritischen Blick, nicht einmal ihre Enkelin. Die verschwendet in ihren Augen wertvolle Lebenszeit mit einer Doktorarbeit, die ohnehin nie fertig werden wird und zu nichts führt. Und auch sonst kann Hannah der grantigen alten Dame nichts recht machen. Trotzdem kommt sie jede Woche vorbei und lässt sich von ihrer Großmutter widerspruchslos maßregeln und kritisieren.

Ein Anwaltsbrief aus Israel

Bewegung kommt in dieses immer gleiche Ritual, als Hannah bei Evelyn einen Brief aus Tel Aviv entdeckt. Wieso schreibt ihr ein israelischer Anwalt? Zu ihrer Verblüffung erfährt Hannah, dass ihre Großmutter die einzige noch lebende Erbin des konfiszierten und nunmehr verschollenen Kunstvermögens des Berliner Kunsthändlers Itzig Goldmann ist, der 1942 von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurde. Hannah weiß nichts von einer jüdischen Verwandtschaft und hat noch nie von Goldmanns gehört. Die sture Evelyn will um keinen Preis der Welt darüber reden. Von dem Erbe will sie auch nichts wissen. Also nimmt Hannah den Brief an sich und forscht selbst nach.

Ihr Lover/Doktorvater nötigt ihr den Doktoranden Jörg Sudmann als Helfer auf. Der meint es sicher gut, geht Hannah aber mit seiner schleimig-ehrpusseligen Aufdringlichkeit fürchterlich auf die Nerven. Zusammen mit der Rechercheurin Marietta Lankwitz, die ihnen von der israelischen Anwaltskanzlei empfohlen wurde, finden sie aber einiges heraus.

Wieso will Evelyn nicht reden?

Rückblicke: Evelyns Mutter, Senta Köhler aus Rostock, war in zweiter Ehe mit dem Journalisten Julius Goldmann verheiratet, einem Sohn des Kunsthändlers Itzig Goldmann. 

Warum Evelyn nicht über ihre Mutter sprechen möchte, erfahren wir auch: Schon zu Schulzeiten hatte Senta davon geträumt, zusammen mit ihrer Freundin Lotte nach Berlin zu gehen und dort das mondäne Leben zu genießen. Dass sie mit 18 schwanger wird und den schneidigen Fliegerhelden Ulrich heiraten „muss“, war in ihrer Lebensplanung nicht vorgesehen. 

Die Ehe mit Ulrich scheitert. Senta wächst einfach nicht hinein in ihre Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter. Nach drei Jahren geht sie als geschiedene Frau nach Berlin und wird Journalistin. Tochter Evelyn lässt sie bei Ex-Schwägerin Trude zurück, einer Krankenschwester, die sowieso von Anfang an „Evchens“ Ersatzmama war. 

Zerrissen zwischen zwei Welten

Von da an wird Evelyns Leben beherrscht von Loyalitätskonflikten. Hin- und hergerissen zwischen dem provinziellen mecklenburgischen Güstrow und dem luxuriösen Berlin, zwischen der bodenständigen Ziehmutter Trude, die sich zu gegebener Zeit in eine stramme Nationalsozialistin verwandelt, und den kultivierten Goldmanns mit ihren illustren Freunden, weiß Evelyn bald nicht mehr, wohin sie gehört. Sie liebt ihre Ziehmutter über alles, aber sie will nicht so leben wie sie. 

Als Mutter und Stiefvater vor den Nazis ins Ausland flüchten, empfindet Evelyn das als ultimativen Verrat. Dass die Goldmanns sie nicht im Stich gelassen, sondern für sie gesorgt haben, bekommt sie nicht mit. Im Zuge der Kriegs- und Nachkriegswirren sowie durch kleingeistiges Familiengezänk gehen wichtige Informationen verloren …

Hannah fordert Fakten ein

Zurück im Berlin von heute: Keine Sekunde kommt Evelyn in den Sinn, dass sie ebenso wenig mit der Mutterrolle anfangen konnte wie ihre Mutter Senta, auf die sie so einen Hass hat. Ihre eigene Tochter Silvia war ihr immer fremd. Sie hatte das Gefühl, für das Kind ihren Beruf geopfert und nichts zurückbekommen zu haben. Enkelin Hannah gewinnt erst ihren Respekt, als sie massiv wird und die fehlenden Informationen über ihre Familie einfordert. Wenigstens ein Bild aus Goldmanns Besitz könnte noch aufzufinden sein: ein Gemälde von Vermeer, das Senta einst mit den Worten beschrieben hat: „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ – und dafür müssen jetzt endlich harte Fakten auf den Tisch.

Es ist faszinierend zu sehen, wie sich Entscheidungen, die Senta vor 100 Jahren getroffen hat, über Generationen hinweg bis in die heutige Zeit auswirken. Und obwohl die Geschichte alle paar Seiten zwischen verschiedenen Jahrzehnten, Orten und Personen hin- und herspringt, behält man, sobald man alle relevanten Personen kennengelernt hat, jederzeit die Orientierung.Ich hoffe nur, dass Hannah jetzt nicht die Fehler ihrer Vorfahrinnen wiederholt.

Männer ohne Namen

Ob es Zufall ist, dass Sentas erster Ehemann und seine Schwester Trude in diesem Buch keinen Familiennamen haben? Auch Evelyn wird bis zu ihrer Verheiratung nie mit Nachnamen genannt. Oder ist das so, weil diese Familie aus Sentas Sicht ein Fehler war und nicht zählt? In der Köhler-Borowski-Sippe hinterlassen nur wenige Männer eine bleibende namentliche Spur. Im Grunde verdanken sie sogar den Namen „Borowski“ einer Frau.

Als ich im Pressetext gelesen hatte, dass es in diesem Buch um geraubte Kunst und ein Restitutionsverfahren geht, hatte ich erwartet, dass uns die Geschichte einmal rund um die Welt führen wird, weil jemand physisch nach den verschwundenen Bildern sucht: Deutschland, Israel, Amerika, vielleicht sogar Asien … und dann findet die finale Auseinandersetzung zweier zentraler Figuren bei mir um die Ecke im schwäbischen Esslingen statt! 😉 Aber die Entwicklung ist plausibel, wenn auch unerwartet, und manch eine*r wird ähnliche Geschichten von Verwandten aus der Kriegsgeneration zu erzählen haben.

Kann Spuren von Humor enthalten

Natürlich ist ein Roman, in dem es um die NS-Zeit, um Lebensziele, Rollenbilder und gesellschaftliche Konventionen geht, ernster Natur. Aber wenn die Schwätzer, Blender und Egomanen des Universitätsbetriebs ihr Fett weg kriegen, kann man sich ein Schmunzeln und bisweilen ein fieses Grinsen nicht verkneifen. Auch die fürchterlichen Betroffenheits-Weiber vom Shalom Berlin e.V. sind herrlich bissig charakterisiert. Vor allzu viel Düsternis braucht man also keine Angst zu haben.

Erkenntnisse und Geheimnisse, Entdeckungen und Enthüllungen, Wahrheiten und Gemeinheiten, Spannung und Emotionen – hier ist alles drin, was einen mitreißenden Roman ausmacht.

Die Autorin

Alena Schröder, geboren 1979, arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie hat Geschichte, Politikwissenschaft und Lateinamerikanistik in Berlin und San Diego studiert und die Henri-Nannen-Schule besucht. Nach einigen Jahren als Redakteurin in der Brigitte-Redaktion arbeitet sie heute frei u.a. für die Brigitte, das SZ-Magazin und Die Zeit. Sie ist Autorin mehrerer Sachbücher sowie fiktionaler Bücher.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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