Michael Meisheit: WATCH – Glaub nicht alles, was du siehst. Thriller

Michael Meisheit: WATCH – Glaub nicht alles, was du siehst. Thriller, München 2021, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-42448-7, Softcover, 413 Seiten, Format: 11,9 x 3,1 x 18,7 cm, Buch: EUR 10,99 (D), EUR 11,30 (A), Kindle: EUR 9,99.

Abb: (c) Heyne

„Auch wenn Omar sich immer weiter entfernte, wusste Tina, dass sie nirgendwo sicher war. Die Polizei half den Taffas. Die Kameras halfen den Taffas. Wenn sie rennen würde, würden sie Tina durch die ganze Stadt verfolgen. Sie hatte keine Chance.“ (Seite 182)

Die Berliner Journalistin Christina „Tina“ Sieger, 30, hat ihr Leben bis jetzt noch nicht auf Reihe gekriegt. Sie lebt in einer schäbigen WG mit deutlich jüngeren Studenten und schlägt sich als „Blaulicht-Reporterin“ für eine Facebook-Seite durch. Ohne die finanziellen Zuwendungen ihres Vaters käme sie nicht über die Runden.

Ein dubioses Jobangebot

Als der Vater unerwartet stirbt und Tina klar wird, dass sie nun aus Kostengründen zu ihrer Mutter ziehen muss, dreht sie durch. Ihr Vater war ihr Seelenverwandter, mit ihrer Mutter dagegen kommt sie nicht gut klar. Tina wartet nicht einmal die Beerdigung ab. Hals über Kopf nimmt sie das dubiose Jobangebot an, das ihr vor kurzem die Niederländerin Kim unterbreitet hat:

Sie müssen für einige Wochen eine Wohnung in London beziehen und dort leben. (…) Sie bekommen alles, was man zum Leben braucht, Taschengeld zum Ausgehen und Shoppen und als Lohn für die gesamte Zeit fünfzigtausend Euro. (…) Es hat nichts mit S*x zu tun.“ (Seite 25)

Wie naiv oder verzweifelt muss man sein, um sich auf so etwas einzulassen? Dass hinter dieser Offerte eine ungesetzliche Schweinerei steckt, kann man mit den Händen greifen! Doch Tina ist das im Moment egal.

Lückenlose Überwachung

Die Leser:innen können sich schnell zusammenreimen, womit Tinas mysteriöser Job wohl zusammenhängen dürfte: mit dem bahnbrechenden neuen Video-Überwachungsprogramm WATCH von Europol. Damit kann man Menschen im öffentlichen Raum nahezu lückenlos im Blick behalten. Der deutsch-libanesische Polizist Nael Bruck ist jetzt in Den Haag dafür zuständig, per WATCH ein Auge auf den kriminellen Taffa-Clan zu haben. Den kennt er besser als ihm lieb ist.

Was plant der Taffa-Clan?

Eigentlich ist die Polizei ja davon ausgegangen, dass der Clan nach der Verhaftung seiner bisherigen Führungskräfte die kriminellen Aktivitäten einstellen wird. Stattdessen hat er eine verblüffende Wandlung durchgemacht: Aus den simpel gestrickten Haudrauf-Ganoven, die mit wenig Aufwand schnell viel Geld machen wollen, ist unter neuer Leitung eine professionelle und zunehmend brutale Organisation geworden, die über Deutschland hinaus zu expandiert. Man vermutet, dass der frischgebackene Ehemann der ältesten Taffa-Tochter jetzt der Boss ist. Da er aber nie öffentlich in Erscheinung tritt, haben die Ermittler ihm den Spitznamen „der Unsichtbare“ verpasst.

Irgendwas planen die Taffas in London, so viel ist durchgesickert. Und so langsam kapiert auch Tina Sieger, mit wem sie sich für die 50.000,- Euro eingelassen hat – und wofür sie tatsächlich engagiert worden ist.

Tina stellt die falschen Fragen

Während Europol mit steigender Verwirrung die Vorgänge in London beobachtet, beginnt Journalistin Tina ihren Kontaktleuten neugierige Fragen zu stellen. Für ihre Auftraggeber wird sie damit zu einer Gefahr. Dass diese Leute nicht lange fackeln, wenn ihnen jemand in die Quere kommt, hätte sie sich eigentlich denken können. Wie weit sie gehen, um ihre Interessen zu wahren, merkt sie bald …

Auch der junge Mann, der ganzen Plan ausgeheckt und an den Clan verkauft hat, muss erkennen, dass er nicht mehr Herr der Lage ist. Er mag klüger sein als die Jungs vom Taffa-Clan, aber er ist allein, sie sind viele und sie schrecken vor nichts zurück.

Ein Maulwurf?

Unterdessen hat man bei Europol entdeckt, dass Unbekannte bestimmte WATCH-Aufzeichnungen manipuliert haben. Alle Hinweise deuten auf die Taffas. Haben sie einen Maulwurf bei der Polizei? Und sind ihre Aktivitäten in London nur ein Ablenkungsmanöver? Aber wofür?

Die Leser:innen bewegt hauptsächlich die Frage, wie Tina aus dieser Nummer wieder heil rauskommt. Selbst wenn ihr die Flucht gelingen sollte: Wie entgeht sie den allgegenwärtigen Kameras? Und was wird aus dem „Architekten“ des genialen Plans, dem die Sache jetzt über den Kopf wächst? Obwohl er keiner von den „Guten“ ist, lernen wir ihn in dieser Geschichte so genau kennen, dass wir seine Beweggründe nachvollziehen können und mit ihm mitfühlen.

Es gibt noch ordentlich Action, bis alle offenen Fragen geklärt sind.

Das ist Popcorn-Kino in Buchform! Seit ich WATCH gelesen habe, betrachte ich Überwachungskamera mit einem gewissen Argwohn. Gut, dass sich der Autor dieses spezielle System nur zum Zweck der Spannung und Unterhaltung ausgedacht hat! Aber ist die Dystopie von heute nicht manchmal die Wahrheit von morgen?

Der Fluch der Selbstüberschätzung

Manchmal hätte ich den handelnden Personen am liebsten zugerufen: „Nein, tu das nicht! Bist du irre?“ Vor allem Tina manövriert sich mit dem Mut eines Menschen, der nichts zu verlieren hat, in immer neue haarsträubende Situationen hinein. Nael Bruck ebenfalls, aber bei dem gehört das zum Beruf. Und wäre den Taffa-Leuten nicht besser gedient gewesen, wenn sie eine Weile die Füße stillgehalten hätten, statt in London so einen Popanz aufzubauen? Damit haben sie doch erst die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich gezogen! Tja, da sieht man wieder mal, wohin Selbstüberschätzung führt! Was passiert, wenn man jemanden kolossal unterschätzt, sehen wir in dieser Geschichte auch.

Nur die Heldin mag ich nicht

Die Heldin, Tina, war mir nicht besonders sympathisch. Mit ihren (Re-)Aktionen konnte ich mich einfach nicht identifizieren. (Trotzdem habe ich mit ihr mitgefiebert.) Daran, dass hier ein Mann aus der Sicht einer Frau schreibt, kann es nicht liegen. Das macht der Autor öfter und damit hatte ich bislang noch nie ein Problem. Aber das ist nicht schlimm: Es gibt ja noch Nael Bruck und Dimitiri Morosow, die als Identifikationsfiguren taugen.

Ich bin kein ausgesprochener Fan von Thrillern, aber wenn Michael Meisheit noch weitere schreibt, gern auch mit einer Prise Science Fiction, bin ich gerne wieder als Leserin dabei. Und ich weiß schon, warum ich immer das Nachwort und die Danksagung lese: Die Story von der Luxuswohnung-Recherche ist zu klasse! 😀

Der Autor

Michael Meisheit, 1972 in Köln geboren, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Drehbuch und ist seit über zwanzig Jahren im deutschen Fernsehgeschäft aktiv. Meisheit lebt mit seiner Familie in Berlin-Kreuzberg.

Rezensentin: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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