Mia Bernstein: Erdbeerflecken

Mia Bernstein: Erdbeerflecken ’“ Kurzgeschichten mit Illustrationen von Michaela von Aichberger, Düsseldorf 2009, Verlag klare Texte und Bilder, ISBN 978-39809599-5-7, 134 Seiten, Format 12 x 17,8 x 1,2 cm, EUR 12,90.

Formal gesehen sind die ’žErdbeerflecken’œ eine Sammlung von Kurzgeschichten. Das Ungewöhnliche daran ist die Art, in der sie erzählt werden: in kurzen, knackigen Sätzen, von denen manche schon als Aphorismen durchgehen können. Es wird auch nicht rein linear ein Handlungsablauf wiedergegeben, Mia Bernstein bildet Assoziationsketten, macht Gedankensprünge. Es ist, als würde man der Autorin live beim Denken zuhören.

Gedichte, oft mit versteckten Reimen, sind den Geschichten vorangestellt, rahmen sie ein oder unterbrechen sie optisch. Inhaltlich bringen sie die Gedanken und Gefühle der jeweiligen Protagonistin auf den Punkt.

Manche der Geschichten haben verschiedene Ebenen. Die eine beschreibt den äußeren Ablauf des Geschehens, die andere das, was sich im Kopf der erzählenden Person abspielt. Dadurch bekommen die Texte einen ungeheuer persönlichen Charakter. In manchen der Gedankengänge erkennt man sich wieder und denkt sich: „Endlich sagt’™s mal jemand!’œ

Zu gerne würde man ja wissen, was in dem Buch wirklich autobiographisch ist uns was erfunden. Das ist natürlich die pure Neugier, denn für das Verständnis der Geschichten hat es keine Bedeutung. Vielleicht ist es eine Nebenwirkung derart intim wirkender Texte, dass sie beim Leser eine geradezu ungehörige Wissbegier in Bezug auf den Autor hervorrufen.

Die Geschichten handeln von Beziehungen und Verlusten, vom Leben und vom Sterben, von Träumen und dem Sinn des Lebens. Es empfiehlt sich nicht, das Buch flüchtig ’žnebenher’œ zu konsumieren, ein bisschen Zeit und Konzentration erfordern die Texte schon. Manches erschließt sich erst beim zweiten Lesen. Aber es lohnt sich, sich darauf einzulassen.

Wer sich nach dieser Beschreibung noch kein so rechtes Bild von dem Buch machen kann, dem hilft vielleicht eine Kurzvorstellung der einzelnen Storys:

Rote Wand: Von der Wandfarbe bis zum Sinn des Lebens wandern die Gedanken der Erzählerin. Wird sie sich aufraffen können, die Schlafzimmerwand knallrot zu streichen, ehe sie aus der Wohnung wieder auszieht? Und warum ist man eigentlich zu Fremden netter als zu den Menschen, zu denen man ’žich liebe dich’œ sagt?

Erdbeerflecken: Beziehungen sterben am Frühstückstisch, da ist sie sich sicher. Früher wollte sie so gewöhnlich sein wie Erdbeermarmelade, denn als sie noch ungewöhnlich war, war sie unglücklich. Aber ist der Umkehrschluss zulässig?

Bootsfahrt: Als sie sich in ihn verliebt, kneift er. Sie verlieren sich aus den Augen. Zehn Jahre später schreibt sie ihm einen Brief. Ist es nun zu spät fürs Glück?

Leitplanken: Er will für drei Tage in die Provence fahren ’“ ohne sie. Sie zählt schon die Tage bis zu seiner Rückkehr, noch ehe er überhaupt abgefahren ist und hinterfragt seine Motive. Aus dem geplanten Kurztrip wird eine Beziehungskrise …

Spiel.Er.Ei: Sie ist 18 und hat eine Affäre mit einer Diskobekanntschaft, bei der sie eigentümlich distanziert bleibt. Ein Spiel der Körper, das die Seele nicht berührt.

Flüstern im Wald: Am Flussufer beobachtet sie eine einzelne Ameise. Rennt sie ziellos umher oder ist ihr Ziel nur für einen Außenstehenden nicht zu erkennen? Weiß sie, was sie will? Ist sie absichtlich allein, weil das manchmal besser ist? Und wie sieht es eigentlich mit den Zielen und Wegen der Erzählerin aus? ’žAmeisen und Menschen, ein komischer Haufen,’œ findet sie. (S. 53)

Waschanlage: Ganz ungewollt tauchen in einer Alltagssituation Gedanken an den verstorbenen Vater auf. Die Erzählerin fühlt sich verlassen seit seinem Tod. ’žKinder sollten von allein gehen, Eltern bleiben. Zu schön ihre bedingungslose Liebe, die wir so nie wieder erfahren werden.’œ (S. 61)

Vorhang zu! Bei der Beerdigung der Mutter denkt sie über deren Leben nach: ’žMit sechsundfünfzig Jahren war sie in der Mitte ihre Lebens, das aufregender, trauriger und anstrengender war als viele andere Leben zusammen. Sie war Mensch, Frau, Geliebte, Getriebene, Gejagte, Gefangene. Spinnerin, Malerin, Bäckerin und Gärtnerin und Mutter. Und ich war mir nicht sicher, ob sie sich selbst das Leben nicht am schwersten machte.’œ (S. 66)

Lilien. Weiß. Was geht einer Frau durch den Kopf, die gerade vom Lebensgefährten nach Strich und Faden verprügelt wird? Verblüffendes!

Ankommen: Kurz bevor er zu einer Reise aufbricht, träumen beide von seinem Tod. Er lässt ihr seinen Glücksbringer da, und das Unheil nimmt seinen Lauf …

Vertrauen: Zwei Schwestern im Rentenalter fragen sich, ob ihr Leben besser verlaufen wäre, wenn ihre Mutter sie geliebt hätte.

Schuldig! Sofie Heinen verklagt das Leben wegen entgangener Chancen, fehlender Liebe, ausgebliebenem Erfolg und enttäuschter Träume. Und was hat es zu seiner Verteidigung zu vorzubringen? Zehn Minuten unverständliches Genuschel! Das Urteil ist eine Überraschung für alle …

Regenschirm: Es regnet in Strömen … Müll, schlechte Gefühle, blöde Gedanken. Seit ihrer Kindheit hat die Erzählerin keinen Schirm mehr besessen, ist immer schutzlos durch den Regen gelaufen. Jetzt kauft sie sich einen ’“ und führt ihn einer ungewöhnlichen Verwendung zu. Die Mitmenschen staunen, doch der Leser versteht.

Kaffe. Schwarz: Nach zwanzig Jahren findet sie ihr altes Tagebuch wieder und stellt fest: Viel hat sich nicht geändert seit damals. Ist es Zeit für ein neues Leben?

Minimalistisch und manchmal rätselhaft sind die dreifarbigen Illustrationen, die die Grafik-Designerin und Künstlerin Michaela von Aichberger für dieses Buch angefertigt hat. Das passt zu den Geschichten und rundet das Buch zu einem Gesamtkunstwerk ab.

’žErdbeerflecken’œ ist sicher keine einfache Kost. Es ist ein außergewöhnliches, emotionales, sehr persönliches und berührendes Buch. Wer sich darauf einlassen kann und mag und wer Freude an einer gleichzeitig pointierten und poetischen Sprache hat, wird sicher Gefallen daran finden.

Die Autorin
Mia Bernstein, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet in Hamburg. »Gedankenscrabble« nennt sie selbst ihre Art zu schreiben.

Die Illustratorin
Michaela von Aichberger, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet in Erlangen als freie Grafik-Designerin und Künstlerin.

2 Kommentare

  1. >“Zu gerne würde man ja wissen, was in dem Buch wirklich autobiographisch ist uns was erfunden.“

    Ich habe es mich nicht getraut zu fragen; manchmal ist es wirklich hart.

    Berührt hat mich , dieses Suchen nach Anerkennung,nach Liebe; oft erfolglos.

    Für mich ein wichtiges Buch!

    Wolfgang

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