Susanne Goga: Der verbotene Fluss, München 2014, Diana-Verlag, ISBN 978-3-453-35650-4, Klappenbroschur, 463 Seiten, Format: 18,2 x 11,6 x 4 cm, Buch: EUR 9,99, Kindle-Edition: EUR 8,99.
„Was ging nur vor in diesem Haus? Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt und Sir Andrew noch vor dem Frühstück die Kündigung übergeben, doch was sollte dann aus Emily werden? Sie holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu atmen, bis sich das Zittern gelegt hatte.“ (Seite 367)
Surrey 1890: Ausgerechnet zwei zutiefst rationale Skeptiker engagiert der britische Abgeordnete Sir Andrew Clayworth, als es in Chalk Hill, seinem Haus in Westhumble/Surrey, zu spuken scheint. Seine achtjährige Tochter Emily hat Albträume, schlafwandelt und behauptet steif und fest, dass ihre Mutter sie nachts besucht. Doch Lady Ellen Clayworth ist vor einem halben Jahr verstorben. Entweder sieht Emily Gespenster oder sie ist psychisch krank.
Mit Geistern hat die neue Gouvernante Charlotte Pauly gar nichts am Hut. Séancen? Medien? Spukgestalten? Alles Mumpitz für die junge Frau. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in Brandenburg und hat sich zu einem Neuanfang entschlossen, nachdem ihr letztes Arbeitsverhältnis in Berlin recht unerfreulich geendet hat. Es gab dort, unter uns gesagt, einen kleinen Skandal. Die achtjährige Emily zu unterrichten klingt nach all dieser Aufregung nach einer angenehmen Arbeit, zumal das Kind als intelligent und wohlerzogen, wiewohl als verträumt und von zarter Gesundheit beschrieben wird. Was Charlotte wirklich in Chalk Hill erwartet, ahnt sie nicht. Sonst hätte sie diese Arbeitsstelle niemals angenommen.
Dem verwitweten Journalisten Thomas Ashdown geht ganz ähnlich. Er arbeitet unter anderem für die Society of Psychical Research, einer Gesellschaft, in der Wissenschaftler mithilfe überprüfbarer empirischer Methoden untersuchen, ob übernatürliche Phänomene tatsächlich existieren. Ihn beauftragt Sir Andrew um herauszufinden, was mit Emily los ist. Nur verfährt der Herr Politiker dabei nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Charlotte soll das Kind erziehen, Thomas Ashdown soll das merkwürdiges Verhalten der Kleinen untersuchen, doch über alles, was die beiden für ihre Arbeit wissen müssten, hat der Hausherr eine Nachrichtensperre verhängt. Im Haus darf über vieles unter Entlassungsandrohung nicht gesprochen werden.
Wie ist Lady Ellen ums Leben gekommen? Was hat es mit Emilys angegriffener Gesundheit auf sich? Wie lautet ihre Krankengeschichte? Wer war ihr behandelnder Arzt? Nichts davon will Sir Andrew diskutiert haben, da er um seinen guten Ruf und um den seiner Familie fürchtet. Das scheint ihm deutlich wichtiger zu sein als das Wohlergehen seiner Tochter.
Klatsch und Tratsch gibt es natürlich trotzdem. Sir Andrew hat schließlich nicht die Macht, ein ganzes Dorf zum Stillschweigen zu zwingen. Charlotte Pauly und Tom Ashdown hören sich um. War die Ehe der Clayworths gar nicht so glücklich wie Sir Andrew es glauben machen will? War Lady Ellens Tod ein Unfall oder ein Suizid? Was hat es mit dem weißen Pulver auf sich, das Charlotte unter einer Bodendiele versteckt gefunden hat? Und was weiß das verstockte Kindermädchen Nora?
Je mehr die unerschrockene Gouvernanten und der gewissenhafte Journalist herausfinden, desto ungehaltener reagiert Sir Andrew. Warum hat er die beiden überhaupt engagiert, wenn er ihre Hilfe gar nicht will? Oder hat er so eine Art Exorzismus gewollt, während die beiden Skeptiker ihm bodenständig-gründliche Detektivarbeit liefern? Und was passt ihm daran nicht? Hat er etwas zu verbergen?
Auch wenn der Sir noch so mauert: Im Interesse der kleinen Emily wollen Charlotte und Thomas unbedingt herausfinden, was hier gespielt wird, und legen sich mächtig ins Zeug.
Können auch Geister nervös werden? Dieser hier wird auf jeden Fall für jenseitige Verhältnisse ziemlich rabiat …
Nie weiß man als Leser, was man von den Ereignissen im Herrenhaus halten soll. Spukt’s oder gibt’s doch eine ganz rationale Erklärung für alles? Und welche Lösung wäre eigentlich schlimmer? Selbst der abgebrühte Agnostiker Ashdown hat Momente des Zweifels, seit er das ausgesprochen überzeugende Medium Mrs. Piper in Aktion erlebt hat. Diese Frau wusste so vieles, was sie gar nicht wissen konnte, und kein Mensch war in der Lage, ihr irgendwelche Tricks nachzuweisen. Wäre es am Ende möglich, dass es Dinge auf der Welt gibt, denen man mit der Wissenschaft nicht beikommt? Und kann es sein, dass hier bei Clayworths ein solcher Fall vorliegt?
Was immer hier auch vor sich geht: Es verändert alle Beteiligten.
Man will gar nicht mehr weg aus der Romanwelt, die Susanne Goga hier erschaffen hat. Im Herrenhaus Chalk Hill ist es so düster-gruselig und spannend wie in den Roman-Klassikern JANE EYRE oder REBECCA. Dass ausgerechnet zwei Skeptiker auf Geisterjagd gehen müssen, ist ein zusätzlicher Reiz.
Die Society of Psychical Research gibt es tatsächlich. Sie ist auch heute noch aktiv. Mehr darüber findet der Leser im Nachwort zu dem Roman. Dieses sollte man keinesfalls vorab lesen, weil man sonst zu schnell hinter das Geheimnis von Chalk Hill kommt. Und das nähme einem doch viel von der Spannung.
Die Autorin
Susanne Goga, 1967 geboren, ist eine renommierte Literaturübersetzerin und Autorin. Im Diana Verlag erschienen bereits ihre Romane Das Leonardo-Papier sowie Die Sprache der Schatten, für den sie 2012 mit dem DeLiA-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Mönchengladbach.
Rezensent: Edith Nebel
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