Rollenvorbild

Am Muttertag hat eine Freundin bei Facebook ein Jugendfoto ihrer Mutter als Profilbild genommen – eine fröhlich lachende junge Frau. Ich glaube, so fröhlich war meine Mutter nie. Nicht, seit ich auf der Welt war, zumindest. Ich könnte mich jedenfalls nicht erinnern, sie je herzlich lachen gehört zu haben. Mein Vater und ich können uns heute noch über irgendwelchen Blödsinn zerkugeln. Sie verzog keine Miene. Irgendwann muss ihr das Lachen vergangen sein.

Ich kenne sie fast nur gestresst, genervt, erschöpft, überfordert und später dann krank. Ob sie sich ihr Leben anders vorgestellt hat? Oder ob sie dachte, das müsse alles so sein und sie hätte ohnehin keine Wahl?

Neben Familie, Haus, Garten und ihrer Schneiderwerkstatt hatte sie immer noch irgendwelche zusätzlichen Herkulesaufgaben an der Backe. Den Anbau des Hauses, zum Beispiel, der in Familien-Eigenleistung erstellt wurde und unser Heim über viele, viele Monate hinweg in eine Trümmerlandschaft verwandelte. Wir hausten mal ohne Rückwand, mal ohne Treppenhaus und kletterten über eine Leiter auf den Balkon, um ins Haus zu kommen. Wir hatten ein Klo, das zum Treppenhaus hin offen war, weil ein mannsgroßes Loch in der Wand klaffte, und wir hatten eine komplett zerlegte Küche. Der Inhalt des Küchenschranks war unter anderem in der Badewanne aufgestapelt, und wenn man was brauchte, musste man wühlen. Der anthrazitfarbene Wohnzimmerteppich war mal dermaßen mit Gips eingestaubt, dass man seine Ursprungsfarbe nicht mal mehr erahnen konnte. Da bekam meine Mutter echt die Krise und ich griff zum Staubsauger.

Dauernd trampelten irgendwelche Hilfstruppen in Gestalt von Freunden und Verwandten durch die Bude, klopften alles kurz und klein und mauerten dann wieder was dazu. Ich war ein Kind, ich fand das klasse. Ein gigantischer Abenteuerspielplatz und vielbeschäftigte Erwachsene, die keine Zeit hatten, an einem herumzuerziehen.

Noch ehe der Umbau fertig war, brach für meine Mutter die Krankenpflegeära an. Mit allenfalls kurzen Pausen dazwischen hat sie, wenn ich mich recht erinnere, 17 Jahre mit der Pflege alter und kranker Angehöriger zugebracht, ohne dass ihre sonstigen Aufgaben weniger geworden wären.

Pausen waren irgendwie nicht drin. Wenn sie gar nicht mehr konnte, legte sie sich für fünf Minuten im Wohnzimmer auf den Fußboden. Nicht auf die Couch … da wäre die Gefahr zu groß gewesen, wirklich einzuschlafen. Der Boden war unbequem genug, dass sie längstens nach einer Viertelstunde wieder aufstand.

Nur in den frühen 60-er Jahren, als ich noch in den Kindergarten ging, gab es mal eine Zeit, in der sie sich nach dem Mittagessen mit der Schwägerin von nebenan mal kurz auf eine Tasse Kaffee zusammengesetzt hat. Als die Schwägerin wieder arbeiten ging, war auch das vorbei.

Ich habe mich als in meiner Jugend die meiste Zeit als zusätzlicher Stressfaktor wahrgenommen. Und man hat mir das auch so vermittelt: „Statt dass du deine Mutter entlastest, brauchst du sie auch noch.“ Im Nachhinein gesehen stimmt das natürlich. Ohne mich hätte sie es leichter gehabt. Aber als Kind bzw. Teenager fehlte mir die Lebenserfahrung, um ihre Überforderung zu erkennen und zu wissen, wie ich ihr hätte helfen können. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, dass das nötig sei. Und ich hätte vermutlich auch keine Lust dazu gehabt. Ich habe nur wahrgenommen: „Au weia, Mutter ist wieder Scheiße drauf“ und habe mich schleunigst aus der Schusslinie begeben. Angebrüllt oder geschlagen zu werden und nicht genau zu wissen, warum, darauf hatte ich keine Böcke. Ich weiß noch, wie ich mal nicht am Küchentisch sitzen durfte sondern an der Spüle stehend essen musste, weil sie einfach meinen Anblick nicht ertragen hat. Es hatte vorher gar keine Teenie-Zickenszene gegeben. Oder es war mir nicht bewusst. Für mich kam das aus heiterem Himmel.

Gelernt habe ich damals: Es ist ganz, ganz schrecklich, Kinder zu haben. Die sind nur immer im Weg und nerven. Deshalb wollte ich auch nie welche.

Mein Vater sagt heute noch, sie hätte doch ihre Schneiderei aufgeben können, dann hätte sie weniger Arbeit gehabt. Damit, denke ich, hätte man ihr das einzige genommen, was ihr Spaß machte, ihr Anerkennung und Erfolgserlebnisse bescherte. Sie war wirklich gut. Die Probleme, die in ihrem Arbeitsbereich auftauchten, waren alle erfolgreich lösbar. Und sie waren nicht emotional belastend. Die Kunden strahlten und zahlten.

Es kamen manchmal wirklich schräge Aufträge rein. Einmal stand ein Architekt auf der Matte mit einer Rolle technischer Zeichnungen. Er wollte neue Überzüge für irgendwelche höchst verwinkelten Sitzpolster auf seinem Boot. Meine Mutter schaute die Zeichnungen an und dann den Architekten: „Was bitte ist DAS?“
Er: „Eine technische Zeichnung … von den Sitzpolstern.“
Sie: „Damit kann ich leider nichts anfangen. Ich verstehe das nicht. Ich bin Schneiderin und kein Techniker. Können Sie nicht die Polster herbringen? Ich messe dann selber.“
Und so quoll die winzige Schneiderwerkstatt ein paar Tage später über von sperrigen Schaumstoffpolstern. Und sie krabbelte mit Maßband, Block und Bleistift herum und machte sich Notizen.

Weil sie die technische Zeichnung nicht lesen konnte, musste sie die Vermessungsarbeit, die der Architekt schon geleistet hatte, eben nochmal machen. Aber sie hat’s geschafft und den Teilen perfekt sitzende neue Überzüge verpasst. Der Architekt war begeistert. Ich auch. Ich mochte es, wie sie sich durch solche Projekte durchbiss. „Das hat schon mal einer gemacht, also muss das irgendwie zu schaffen sein!“ Und dann hat sie so lange getüftelt, bis sie eine Lösung hatte.

Erst als sie gesundheitlich nicht mehr so auf der Höhe war und das Schneidern notgedrungen aufgeben musste, hat sie das Lesen für sich entdeckt. Das hatte sie früher immer als Zeitverschwendung angesehen. Jetzt verschlang sie die Auswahlbücher und berichtete mir am Wochenende immer, was sie wieder für tolle Krimis oder Thriller gelesen hatte. Im Nacherzählen war sie ganz große Klasse.

Ich habe mir nie bewusst vorgenommen, nicht wie meine Mutter zu werden. Ich habe überhaupt erst sehr spät angefangen, darüber nachzudenken, wie sie war und wie ihr Leben verlaufen ist. Ich bin nur manchmal entsetzt darüber, dass meines irgendwie in die gleiche Schiene geraten ist.

Foto: Unbekannt, bearbeitet mit pixenate.com
Foto: Unbekannt, bearbeitet mit pixenate.com

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