Kleine Typologie der Nachbarn

Aufgewachsen bin ich in einem 4-Parteien-Haus, das der Familie gehörte. Oben, unten, rechts und links: überall Verwandte! Das hat immer wunderbar geklappt. Geschriebene Regeln gab es keine. Was man tun und lassen sollte, das haben einem die Eltern oder Onkel und Tante schon gesagt. 😉

Ab und zu wechselten die Bewohner. Eine Tante zog aus, ein Cousin mit Familie zog ein … Das Haus war die allermeiste Zeit fest in Familienhand. Das hat seine Vorteile: Wer immer einzieht, den kennt man gut. Er gehört ja zur Mischpoche. Da war es eine ganz schöne Umstellung, als ich in meinen Zwanzigern in die jetzige Wohnung zog. Es gibt hier sechs Wohneinheiten, wenn man die andere Haushälfte mitzählt, sind’s zwölf. Hier wohnt eine bunte Mischung an Eigentümern und Mietern verschiedener Altersgruppen und Nationen. Wir haben eine schriftliche Hausordnung, regelmäßige Wohneigentümerversammlungen und eine kompetente Hausverwaltung, die keinerlei Fisematenten duldet.

Die Fluktuation in so einem Gebäude ist natürlich deutlich höher als in meinem Elternhaus. Allein in der Wohnung über mir wohnt jetzt der achte Mieter in 27 Jahren. Auch wenn die Besetzung immer mal wechselt, begegnet man doch stets den gleichen Typen.

  • DIE HILFSBEREITEN – Ohne sie würde das Zusammenleben nur halb so gut funktionieren. Sie nehmen Pakete an, gießen die Blumen, leeren den Briefkasten und versorgen die Haustiere, wenn man in Urlaub ist. Und sie stellen den Mülleimer auf die Straße raus, wenn man es selbst mal vergessen hat. Das alles machen sie freundlich und zuverlässig.
    Die Hilfsbereiten können, müssen aber nicht identisch sein mit der folgenden Gruppe:
  • DIE GUTEN GEISTER – Das sind handwerklich begabte, pragmatische Leute, die nicht viel Aufhebens machen, sondern handeln. Das Treppenhauslicht brennt nicht? Der Rasenmäher pfeift auf dem letzten Loch? Ein Rasentrimmer wäre praktisch? – „Hm“, macht der gute Geist und fährt in den Baumarkt. Gute Geister sind wesensverwandt aber nicht zwangsläufig identisch mit der nächsten Gruppe:
  • DIE OPTIMIERER – Handwerklich begabt aber knapp bei Kasse, zieht der Optimierer in eine renovierungsbedürftige Wohnung, höchstwahrscheinlich mit klapprigen Billigmöbeln. Sobald er ein paar Kröten übrig hat, werden die in die Wohnung gesteckt. Er baut, bohrt, bastelt und werkelt ohne Unterlass, gern auch sonntags und/oder bis tief in die Nacht. Keller und Treppenhaus werden mit Werkzeug und Kleinmöbeln zugestellt und wenn die Bude einmal komplett runderneuert ist, fängt er wieder von vorne an. Es gibt ja auch immer was zu tun: Aus dem Kinderzimmer wird ein Jugendzimmer, aus dem Jugendzimmer ein Büro …
    Im Gegensatz zum „guten Geist“ beschränkt der Optimierer seine Aktivitäten auf die eigenen vier Wände. Das große Ganze interessiert ihn nicht. Die nächste Stufe sind dann die folgenden Herrschaften:
  • DIE EXTRAWÜRSTLER – Bei diesen Hausbewohnern macht der Optimierungsdrang nicht an der eigenen Wohnungstür Halt. Sie trachten danach, auch das Gemeinschaftseigentum mit Beschlag zu belegen. Sie wollen den Trockenboden zu Kinderzimmern oder Büroräumen ausbauen, möchten im Garten einen Verschlag für ihre Fahrräder oder das Motorrad haben oder den Garten zubetonieren um Parkplätze für sämtliche Familienautos zu bekommen. Sagt die Eigentümergemeinschaft regelmäßig „nein“, ziehen sie irgendwann weiter.
    Es gibt auch Extrawürstler, die gar nicht erst fragen. Das ist dann die nächste Gruppe:
  • DIE EXPANDIERER – verteilen ihr Gerümpel hemmungslos im ganzen Haus. Wenn man nicht den Anfängen wehrt, steht bald ein Schuhschrank im Treppenhaus, ausrangierte Möbel auf Trockenboden, im Winter stehen Blumenkästen im Hausgang und Kinderfahrräder in der Waschküche. Letztere bleiben da manchmal stehen, bis die Enkel groß genug sind, um damit fahren zu können.
  • DIE ÜBERFORDERTEN wollen von alledem nichts wissen. Dachboden leerräumen und isolieren? Treppenhausfenster putzen? Unkraut jäten? „Ach, geht mit doch mit Scheiß vom Acker!“. Die Überforderten wollen einfach nur wohnen und ansonsten ihre Ruhe. Alles, was Zeit frisst und die Rekrutierung von Hilfstruppen erfordert, empfinden sie als Zumutung. Solange man nichts von ihnen will, sind sie aber friedlich.
  • DIE NÖRGLER haben an allem etwas auszusetzen. Die Kinder sind zu laut, die Bäume sind zu hoch, die Gartengestaltung gefällt ihnen sowieso nicht und wenn alle anderen die Fassade weiß gestrichen haben wollen, sind sie für Blau. Die Grenze vom harmlosen Meckerpott zum unerträglichen Querulanten ist fließend.
  • DIE ERZIEHER sind ähnlich anstrengend, haben aber eine Mission. Nicht die eigene Befindlichkeit steht im Vordergrund, sondern das Befolgen von Regeln: Müll falsch sortiert? Kehrwoche schlampig gemacht oder, noch schlimmer, gar nicht? Die Erzieher werden es dir ohne Spielraum für Interpretationen mitteilen. Gern auch mit tragender Stimme vor anderen Leuten. „Und deine Fenster kannste auch mal wieder putzen!“
    Erzieher können, müssen aber nicht identisch sein mit der folgenden Gruppe:
  • DIE ERBSENZÄHLER kennen alle einschlägigen Gesetze und Verordnungen (aus dem Internet), machen über sämtliche relevanten EU-Normen schlau und lesen die Verwaltungsabrechnung wirklich ganz genau. Das kann zwar nerven, weil Streber immer nerven, aber nicht selten stoßen sie tatsächlich auf wichtige Punkte und bei ihrer Erbsenzählerei kommt etwas Positives für die Gemeinschaft heraus. Wenn sie auch noch pfiffig und tatkräftig sind, sollte man nicht gequält mit den Augen rollen, wenn sie loslegen, sondern sie eher hofieren als belächeln.
  • DIE MESCHUGGENEN sind leider zu gar nichts nütze und dem Hausfrieden abträglich. Ob sie zu abartigen Zeiten laut Musik hören, nachts herumbrüllen, Hausrat aus dem Fenster werfen, Kakerlaken sehen, wo keine sind oder behaupten, andere Hausbewohner würden ihre Wäsche auf der Leine zerschneiden – das alles ist blitzübel und man kann nur hoffen, dass diese Spezies schnell wieder auszieht. Mit allen anderen Typen auf der Liste kann man irgendwie klarkommen, mit den Meschuggenen ist keine sinnvolle Kommunikation möglich.

Falls sich jetzt jemand fragt, in welche Gruppe ich mich selbst einsortieren würde: Ich bin wohl eine Mischung aus „hilfsbereit“ und „überfordert“. Bei kleinen Alltagsgefälligkeiten werde ich kaum nein sagen, aber die großen, zeitaufwändigen Projekte, die ich gar nicht ohne fremde Hilfe stemmen kann, bedeuten für mich schnell den organisatorischen Super-GAU. So gesehen wäre es vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich nicht mehr in eine Genossenschaft bzw. Hausgemeinschaft eingebunden wäre, sondern in einem eigenen Haus über allfällige Großvorhaben selbst bestimmen könnte.

Foto: (c) H.D. Volz / pixelio.de
Foto: (c) H.D. Volz / pixelio.de

Foto: © H. D. Volz / www.pixelio.de

Ein Kommentar

  1. In so einem Haus würde ich sehr gerne wohnen, da spürt man Leben und Liebe und da ist alles, was ich immer gesucht habe. Eine zauberhafte Geschichte, meisterlich geschrieben.

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