Stadtteilführung Ostfildern-Nellingen, 24.05.2015, Teil 2 von 3

Die Industrialisierung rettete die Gegend vor der Armut. Aus der Subsistenzwirtschaft wurde eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Hauptberuflich gingen die Bauern „in die Fabrik“. So kam Geld in die Kasse und die Auswanderungswelle wurde gestoppt.

Im Bossengarten
Im Bossengarten

Wir schlichen durch enge Gässchen, über feldwegartiges Gelände und schlüpften an Gartenzäunen entlang. Nie hätte ich gedacht, dass man da durchgehen darf. Es sah alles so privat aus. Aber unser Stadtteilführer versicherte uns, dass das alles öffentliche Wege seien. Älteren Teilnehmern war das idyllische “Schlangenwegle“ und der „Bossengarten“ durchaus ein Begriff. Da hätten sie als Kinder immer gespielt, erzählten welche. Ich war da noch nie und habe gestaunt, wie nahe hier der alte dörfliche Teil und das moderne städtische Nellingen beieinander liegen. Und was für riesige Gärten die Leute da haben, ob sie nun auf einem alten Gehöft oder in einer modernen Villa wohnen.

Der Archivar zeigte uns eine Luftaufnahme von Nellingen aus den 60er Jahren. Da war der Bossengarten noch ein grüner Fleck im Ortsbild – wie der Central Park. Weil das Gelände feucht war, wurde es lange Zeit nicht bebaut.

Wie macht man das Beste aus einem winzigen Bauplatz?
Wie macht man das Beste aus einem winzigen Bauplatz?

Das rosa Haus in der Wilhelmstraße ist nicht wegen seiner farbigen Fassade eine Attraktion, sondern wegen seiner Form. Eine Nellinger Version des New Yorker „Flat-Iron-Building“. Auf ein winziges Grundstück wurde ein schmales, merkwürdig verwinkeltes Häusle hingebaut. Es soll mal ein Gästehaus (Gästehaus Otto?) gewesen sein, doch ich konnte nicht in Erfahrung bringen, ob es noch als Pension genutzt wird oder zwischenzeitlich privat genutzt wird.

Gasthaus Krone
Gasthaus Krone

Dass es in der Wilhelmstraße einst auf 500 Metern 6 Gasthäuser gab, ist für eine pietistische Gemeinde eher ungewöhnlich. Verschwendung ist nicht gottgefällig, Müßiggang auch nicht, und wer in der Kneipe sitzt, hat wohl zu viel Geld und zu wenig zu tun! Der direkte Weg in die Hölle.

Die Wirtschaften müssen trotzdem ihr Auskommen gehabt haben. Es waren keine Speiselokale, wie man sie heute kennt, sondern Gaststuben, die an eine Metzgerei, Bäckerei oder Landwirtschaft angeschlossen waren, nur abends geöffnet hatten und allenfalls ein Vesper anboten. Auswärtige, die von den Fildern kamen und in Esslingen zu tun hatten, werden dort schon eingekehrt sein.

Nellingens erster Konsum heute - abrissbereit
Nellingens erster Konsum heute – abrissbereit

Im abrissbereiten Gebäude Burgstraße 14 war früher Nellingens erster „Konsum“. Gegründet 1904, bot der genossenschaftlich organisierte Laden den Arbeitern die Möglichkeit, günstig einzukaufen. Man musste Mitglied werden, eine Einlage entrichten und konnte dann Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarfs erwerben. Es gab Rabattmarken, die man in ein Heftchen klebte, und wenn das Heft voll war, bekam man einen bestimmten Betrag erstattet. Die Genossenschaftsidee stammte aus der Stadt, das ist ein Teil der Nellinger Arbeiterkultur.

Den Pfarrern auf den Dörfern gefiel die zunehmende Industrialisierung gar nicht. Wenn ihre Schäfchen in der Stadt arbeiteten statt daheim auf dem Dorf, waren sie nur schwer zu kontrollieren. Außerdem verdienten sie Geld, was nach Meinung der Geistlichen zu sündhafter „Verschwendungssucht“ führte. (Bei Schwaben! ja nee, is’ klar!) Und sie brachten sozialdemokratisches Gedankengut aufs Dorf.

Der erste Konsum um 1910. Foto: Stadtarchiv Ostfildern
Der erste Konsum um 1910. Foto: Stadtarchiv Ostfildern
Der Konsum um 1920. Foto: Stadtarchiv Ostfildern
Der Konsum um 1920. Foto: Stadtarchiv Ostfildern

Ein älterer Teilnehmer erzählte, wie die Arbeiter, die vom Dorf zu Fuß nach Esslingen in die Fabrik gingen, zu seines Vaters Zeiten verpflegt wurden: Die Frauen bereiteten das Mittagessen zu und brachten es in Blechbehältern („Henkelmann“) zu einem Treffpunkt, an dem „Essensbauern“ es entgegennahmen und zu den Fabriken fuhren. Die Frauen gingen wieder heim.

Von meiner Verwandtschaft kenne ich die Variante, dass die Arbeiter ihren Frauen mittags ein Stück entgegengingen, das Essen entgegennahmen und im Freien verzehrten.

Burgstraße
Burgstraße

Wie die Burgstraße zu ihrem Namen kam, wollte eine Teilnehmerin wissen. Eine Burg dürfte es in Nellingen kaum gegeben haben. Das nicht, meinte der Archivar, aber wahrscheinlich ein befestigtes Gebäude der Herren von Nellingen.

Das Backhäusle
Das Backhäusle

Das Backhäusle in der Burgstraße war ursprünglich ein Waschhaus und wurde erst 1984 vom „Backhäuslesverein“ seiner heutigen Bestimmung übergeben. Brot kann man dort nicht kaufen, nur selbst welches backen, sofern man Vereinsmitglied ist.

Weiter ging es zum Klosterhof, dem größten historischen Gebäude-Ensemble in Ostfildern. Heute sind dort Teile der Stadtverwaltung untergebracht.

Im Klosterhof
Im Klosterhof

Anselm, der letzte der Herren von Nellingen, war kinderlos geblieben. Er nahm an einem Kreuzzug teil, und zum Dank für seine gesunde Rückkehr nach Nellingen schenkte er im Jahr 1120 seine Güter der Benediktinerabtei St. Blasien im Schwarzwald. Aus diesem Anlass wird Nellingen als “Nallingen erstmals urkundlich erwähnt. Der Ort selber ist natürlich älter. Die Endung -ingen ist eine Wortendung vieler Ortsnamen im deutschsprachigen Raum. Wie auch bei Familiennamen wird eine Zugehörigkeit ausgedrückt, in der Regel ist der vorhergehende Wortteil ein Ort oder eine Person. Nellingen war wahrscheinlich der Ort des Nallo, des Nagelschmieds. Ortsnamen mit – ingen kommen in allen Gegenden vor, die von der Völkerwanderung bis ins frühe Mittelalter (etwa 9. Jahrhundert) germanisch besiedelt waren oder wurden.

Ehemalige Propstei
Ehemalige Propstei
026-Klosterhof Kanzlei
Ehem. Propstei, heute Stadtverwaltung, Detailaufnahme
029-Klosterhof Kanzlei
Ehem. Propstei, heute Stadtverwaltung, Detailaufnahme

 

Das Kloster St. Blasien errichtete in Nellingen eine Propstei, einen Stützpunkt, um die umfangreichen Besitzungen in der Region verwalten zu können. Auch wenn der Volksmund vom Kloster spricht – Mönche haben in Nellingen nie gelebt. Im Klosterhof war immer nur die Vermögensverwaltung von St. Blasien untergebracht.

Die Württemberger waren die Schutzvögte des Klosters – ein Kloster konnte sich ja nicht selbst verteidigen. Diese enge Verbindung Nellingens mit Württemberg hatte im Großen Städtekrieg verheerende Auswirkungen auf Nellingen: Es wurde im Jahr 1449 von der Reichsstadt Esslingen nahezu komplett zerstört. Das Propsteigebäude (Heute: Klosterhof 12) wurde zwischen 1565 und 1599 wieder aufgebaut.

Foto: Peter Schmelzle, http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Text_of_Creative_Commons_Attribution-ShareAlike_3.0_Unported_License
Das Rathaus. Foto: Peter Schmelzle, http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Text_of_Creative_Commons_Attribution-ShareAlike_3.0_Unported_License
Staffelgiebelhaus/Fruchtkasten
Staffelgiebelhaus/Fruchtkasten

Zu dem Gebäudekomplex gehören auch das .Rathaus und das Staffelgiebelhaus, der Fruchtkasten, erbaut 1599, in dem Feldfrüchte eingelagert wurden.

Spätromanischer Kirchturm der St.-Blasius-Kirche
Spätromanischer Kirchturm der St.-Blasius-Kirche

Das älteste Bauwerk auf dem Gelände ist der spätromanische Kirchturm der (heute evangelischen) St.-Blasius-Kirche von 1220. Das Bauwerk hat rheinische und elsässische Einflüsse. Auf den Fildern gab’s keine Baumeister, die so eine Kirche hätten planen und errichten können.

Der Turm hat einen viereckigen Grundriss, der sich nach oben zum Achteck verjüngt. Er gilt als ältester Kirchturm dieses Typs in Württemberg. Das Kirchenschiff wurde nach der Beschädigung des alten Gebäudes durch Sturm 1749 im Jahr 1777 im Barockstil wieder aufgebaut. Die Kirche wurde 1926 renoviert, wobei man gleich einen Gemeindesaal angebaut hat.

Altes Pfarrhaus
Altes Pfarrhaus
Altes Pfarrhaus
Altes Pfarrhaus

Das benachbarte Pfarrhaus von 1565 zählt zu den ältesten Gebäuden Nellingens, war Pfarrhaus bis 1838 und ist seit 1975 im Besitz der Stadt, die es 1980 grundlegend sanierte. Heute ist ein Teil der Stadtverwaltung dort untergebracht, der Fachbereich II. (Von außen schaut’s wunderbar idyllisch aus, aber einen Arbeitsplatz in so einem historischen Gebäude zu haben ist nicht immer das reine Vergnügen.)

Die Nellinger Propstei hatte großen Einfluss, denn ihre Befugnisse gingen über die Gemeinde hinaus, Die Macht der Württemberger reichte jedoch so weit, dass sie um 1560 in Nellingen die Reformation durchsetzen konnten. Da war also nun eine katholische Propstei in einem reformierten Ort. Das war dann wohl ein bisschen kompliziert. Nach dem 30jährigen Krieg kam es im Jahr 1649 zu einem Tausch: Nellingen kam in württembergischen Besitz und das Benediktinerkloster St. Blasien erhielt im Gegenzug von Württemberg eine Gemeinde, die näher am Schwarzwald lag.

– Fortsetzung folgt –

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