Stadtteilführung Ostfildern-Nellingen, 24.05.2015, Teil 3 von 3

Von übergeordneter Bedeutung war Nellingen auch weiterhin. Dort war das von 1807 an das Württembergische Kameralamt ansässig. Das Kameralamt Nellingen war eine Einrichtung des Königreichs Württemberg, die im Amtsbezirk Besitz und Einkommen des Staates verwaltete. Erst nach der Bauernbefreiung 1836 wurde es geschlossen und die Lehensverhältnisse aufgehoben.

Fruchtkasten/Staffelgiebelhaus mit "Kriegsbeschädigung".
Fruchtkasten/Staffelgiebelhaus mit „Kriegsbeschädigung“.

Im Zweiten Weltkrieg wurden der Klosterhof, die Riegelstraße und die Rinnenbachstraße durch Brandbomben beschädigt. Der Gemeindepfarrer soll eigenhändig dafür gesorgt haben, das seine St.-Blasius-Kirche nicht abbrennt. Nur am Staffelgiebelhaus ist noch etwas von den Schäden aus jener Zeit zu sehen (der einzeln stehende Staffelgiebel rechts hinten). Man hat es nie wieder in den alten Zustand zurückversetzt.

Alter Pfarrgarten
Alter Pfarrgarten
Alter Pfarrgarten
Alter Pfarrgarten

Der alte Pfarrgarten ist heute öffentlich zugänglich und enthält seit 1992 ein etwas esoterisch anmutendes Labyrinth (Durchmesser: 16 m) aus Heilkräutern und Blumen. Angelegt hat das die Gruppe frauen.projekt.labyrinth. Zum eigentlichen Pfarrgarten nebenan hat die Öffentlichkeit keinen Zutritt.

Während wir uns im alten Pfarrgarten aufhielten, erzählte uns der Archivar von der Gebietsreform 1975. Die Gemarkungen Kemnat, Nellingen, Ruit und Scharnhausen wurden zu einer Großen Kreisstadt vereint. An den Zirkus rund um die Namensgebung kann ich mich noch erinnern. Es gab eine Ausschreibung, und heraus kam „Ostfildern“.

Jede der im Zuge der kommunalen Neuordnung entstandenen Städte hätte sich gerne „Filderstadt“ genannt, aber man war vorab übereingekommen, dass dieser Name nicht vergeben wird. Das jetzige Filderstadt hieß zunächst auch Filderlinden, hat sich dann aber nach einem halben Jahr in „Filderstadt“ umbenannt. Manchmal gibt es heute noch Verwechslungen zwischen Ostfildern und Filderstadt. Oder Ostfildern wird als ein Stadtteil von Filderstadt betrachtet. Auch wenn die Kunstnamen für die Gemeinden nicht der ganz große Wurf waren: Jetzt ist es eben so, und wir leben damit.

Ein wirkliches Zentrum hat Ostfildern nicht. Es sind verschiedene Stadtteile mit jeweils eigenen Rathäusern, Bibliotheken und Sporthallen. Da haben sich die alten Strukturen erhalten. Man wollte niemandem was wegnehmen und keinen benachteiligen. Das bedeutet natürlich einen gewissen Kostenaufwand. Eine Zentralisierung wäre sicher billiger, aber das hat nie jemand ernsthaft erwogen.

Klosterhof-Grundschule
Klosterhof-Grundschule

Wir kamen an der Klosterhof-Grundschule vorbei. Erbaut wurde sie 1908, und unser Stadtteilführer meinte, sie habe mit jedem Anbau optisch gewonnen. Auf der Homepage der Schule kann man prüfen, ob man sich dieser Meinung anschließen möchte: http://www.klosterhofschule-nellingen.de/images/bildgalerieschulhaus.jpg . Es ist schon was dran: So trutzburgartig wie in den Jahren 1946 – 1985 schaut das Gebäude jetzt nicht mehr aus. Aber die Urfassung von 1908 war doch gar nicht so übel!

Der Schopf, ein ehemaliges Bauernhaus
Der Schopf, ein ehemals Bauernhaus, heute Ballettschule
Schopf - Fachwerk
Schopf – Fachwerk
Schopf - Detail
Schopf – Detail
Schopf - Remise
Schopf – Remise
Schopf - Nebengebäude
Schopf – Nebengebäude

In der Wilhelmstraße 38 steht eines der ältesten Gebäude Nellingens, der denkmalgeschützte „Schopf“. Über 400 Jahre war das lang war das Gebäude mit seiner Remise ein schwäbisches Bauernhaus. Stall und Scheune beherbergen heute das Foyer und den 120 qm großen Ballettsaal einer Ballettschule. Auf der Homepage der Seite gibt’s ein paar autofreie Aufnahmen des Gebäudes bei schönem Wetter: http://www.tanz-art.de .

Kaiserstraße
Kaiserstraße

Die Kaiserstraße, so erfuhren wir, sei das Neubaugebiet der 1900er-Jahre. Und was die schwäbische Fruchtfolge ist, lernten wir auch: Dinkel, Brache, Bauplatz. 😉

Kaiserstraße: Haus Vogt
Kaiserstraße: Haus Vogt

Das Haus Vogt (Kaiserstr, 23, heute Danielas Secondhand-Lädle) beherbergte Nellingens ersten Gemischtwarenladen und die erste Bank.

Kaiserstraße. Rechts: Gasthaus "Herzog Karl"
Kaiserstraße. Rechts: Gasthaus „Herzog Karl“ (Baum im Weg! 😉 )

1905 wurde das Gasthaus „Herzog Karl“ erbaut. Es wird eigentlich nicht mehr als Wirtschaft betrieben, muss aber zur Konzessionserhaltung ab und zu mal geöffnet sein. Der Archivar empfahl uns, diese Gelegenheit unbedingt zu nutzen, wenn sie sich bietet. Die Gasträume des Herzog Karl seien nämlich noch original so eingerichtet wie 1905. Nur die Lampen seien aus den 50-er Jahren, meinte er.

Weiter ging’s zur „Halle“, dem ehemaligen Straßenbahndepot. Die Geschichte der Straßenbahn ist mir relativ vertraut. Ich bin selbst noch jahrelang mit der „Strambe“ in die Schule gefahren und habe mit den Schulkameraden 1978 gegen die Abschaffung der Bahn protestiert.

Die Strecke Esslingen-Nellingen-Denkendorf (END) gab es seit 1926. Die Bahn sollte die Arbeiter in die Fabriken nach Esslingen bringen. Aber nicht alle konnten sich die Fahrt leisten. Bergab war das Ticket billiger als bergauf, was mit dem unterschiedlichen Stromverbrauch begründet wurde.

1929 kam die Strecke Esslingen-Scharnhausen-Neuhausen dazu. Sie führte durch die heutige Hauptgeschäftsstraße, die Hindenburgstraße. Die erlangte erst durch die Straßenbahn Bedeutung, vorher war da nicht viel. Hauptsächlich Acker. Heute ist da so viel los, dass während der Hauptverkehrszeiten kein Durchkommen ist. (Sonntag nachmittags ist es natürlich eher ruhig.)

Esslinger Straße/Hindenburgstraße. Hier fuhr früher die Straßenbahn.
Esslinger Straße/Hindenburgstraße. Hier fuhr früher die Straßenbahn.
Hindenburgstraße
Hindenburgstraße

In den 1960er und 1970er-Jahren hat man nicht mehr in die Straßenbahn investiert. Sie durfte nur noch dank diverser Sondergenehmigungen fahren. 1976 feierte man noch das 50jährige Jubiläum der Straßenbahn, 1978 wurde sie trotz aller Proteste aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt und durch Linienbusse/Gelenkbusse (Linie 119 und 120) ersetzt.

Mehr über die Straßenbahn END gibt’s hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Straßenbahn_Esslingen–Nellingen–Denkendorf . Und ja, die Endhaltestelle bei uns daheim in Denkendorf hieß „Ochsen“. Aber nur, weil die Gastwirtschaft dort so heißt. 😉 Nicht, weil wir Dörfler … na, Sie wissen schon …

"An der Halle" - Markthalle
„An der Halle“ – Markthalle
"An der Halle" - Markthalle
„An der Halle“ – Markthalle

Unter Bürgermeister Herbert Rösch wurde in den 1980er Jahren das alte Straßenbahndepot zum Kulturzentrum umgebaut. Die Räumlichkeiten genutzt von der Volkshochschule, Musikschule, Vereine und der Treffpunkt für Ältere. Es gibt einen Theatersaal und Veranstaltungsräume, die man mieten kann.

Die 68 Meter lange und 14 Meter breite offene Halle wird für Wochenmärkte und Vereinsveranstaltungen genutzt … oder einfach als Durchgang. Die gebogene Dachkonstruktion ist jener der alten Wagenhalle nachempfunden. Erhalten werden konnte das Original nicht.

Rund 35 Millionen DM hat das Bauprojekt damals gekostet. 1989 wurde das Kulturzentrum „An der Halle“ eröffnet und als sehr innovativ gelobt.

Haus des Bürgermeisters Hermann Seeger
Haus des Bürgermeisters Hermann Seeger

Die letzte Station der Stadtführung führte uns zu dem herrschaftlichen Gartenstadt-Haus in der Esslinger Straße, das ich seit Jahrzehnten bewundere. Ich habe das Gebäude immer so auf 1900 herum geschätzt und mich immer gefragt, wem es wohl gehört hat. Einem reichen Fabrikanten? Bei der Führung habe ich es endlich erfahren: Auch das ist ein Schultheißhaus. Es gehörte dem Bürgermeister Hermann Seeger – also dem Herrn, nach dem Straße benannt ist, in der ich wohne. (Es war, als ich herzog, schon nicht ganz leicht, herauszufinden, wer das überhaupt war.)

1912 ließ Seeger das Haus bauen nach den damals modernsten Standards. Es war das nobelste Privatgebäude in ganz Nellingen mit so-und-so-vielen Lichtschaltern und Steckdosen sowie Marmorfliesen im Bad. Jetzt würde ich es echt gern mal von innen sehen. Aber eigentlich interessiert mich mehr, wie es 1912 dort ausgesehen hat als wie es heute ist.

Fast drei Stunden lang bin ich durch meinen Wohnort getapert und habe vieles gesehen und erfahren, das ich bislang nicht beachtet, gekannt oder gewusst habe. An den Führungen durch die anderen Stadtteile, die ebenfalls angeboten werden, bin ich jetzt weniger interessiert, weil ich zu keinem der übrigen Teilorte eine Beziehung habe. Wenn es so eine Veranstaltung in Denkendorf gäbe, dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, wäre ich gleich dabei. Allerdings geht’s dort extrem bergauf und bergab, das wäre für (ältere) Teilnehmer, die nicht gut zu Fuß sind, gar nicht machbar. Und die stellen nun einmal einen Großteil des Publikums. Also bleibt die Nellinger Stadtteilführung für mich wohl ein Einzelfall.

Blumenschmuck vor einem Laden in der Esslinger Straße
Blumenschmuck vor einem Laden in der Esslinger Straße

– Ende –

5 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für die tolle Zusammenstellung. Ich bin durch Zufall darauf gestoßen und wäre zu gerne dabei gewesen. Wissen Sie noch, wer die Führung gemacht hat? Vielleicht kann ich ja mal direkt anfragen, ob es die Chance auf ein Revival gibt.

    1. Die Führung gibt’s immer mal wieder, das hab ich in der Stadtrundschau gelesen. Das hat der Stadtkämmerer gemacht, der Name ist mir im Moment nicht mehr präsent.

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