Ingrid Zellner: Gnadensee: Ein Baden-Württemberg Krimi

Ingrid Zellner: Gnadensee: Ein Baden-Württemberg Krimi, Tübingen 2017, Silberburg Verlag, ISBN 978-3-8425-2056-1, Softcover, 317 Seiten, Format: 11,8 x 2,5 x 18,8 cm, Buch: EUR 12,90, Kindle Edition: EUR 9,99.

Abbildung: (c) Silberburg Verlag

„Das mütterliche Lächeln der rundlichen Obstbäuerin, die Anrede ‚Kind‘, der Apfel – das alles weckte Erinnerungen an ihre Kindheit, in der das Leben ihr noch hell und rosig erschienen war und sie keine Ahnung davon gehabt hatte, dass Menschen einander berauben und umbringen und sich selbst mit Drogen zugrunde richten konnten.“ (Seit 241)

Eigentlich steht Lona Mende, 24. Studentin der Literatur und Geschichte in Konstanz, auf der Sonnenseite des Lebens: Ihr Vater hat ihr die Hälfte der Familienvilla in Mittelzell auf der Insel Reichenau hinterlassen, in der sie, räumlich getrennt von ihrer Mutter Ute, ein ganzes Stockwerk bewohnt.

Auf der Sonnenseite? Wirklich?


Lona hat so viel geerbt, dass sie eigentlich gar nicht arbeiten müsste. Entsprechend locker geht sie ihr Studium an. Ihr Freund Dirk Reisacker, ein Sohn aus gutem Haus, nimmt sein Studium der Nanoscience ungleich ernster. Seine Freundin trägt er auf Händen. Zu Weihnachten hat er ihr eine Kurzreise nach Island geschenkt, die die beiden in Kürze antreten wollen. Lona ist voller Vorfreude.

Auf den zweiten Blick ist im Leben der jungen Frau nicht alles eitel Sonnenschein. Sie leidet noch immer unter Albträumen von dem Autounfall, bei dem vor fünf Jahren ihr Vater ums Leben gekommen ist. Das ohnehin schon problematische Verhältnis zu ihrer Mutter ist danach noch schlechter geworden. Ute Mende macht ihre Tochter für den Tod ihres Mannes verantwortlich. Darüber hinaus ist Lona ihr vollkommen gleichgültig.

Lonas Freund verschwindet spurlos


Verlassen kann Lona sich nur auf ihre Freundin Andrea Strobl und auf Dirk. Als dieser ausgerechnet an ihrem Geburtstag nicht zur verabredeten Zeit erscheint, ist ihr sofort klar, dass da etwas passiert sein muss. Sie fährt in seine Wohnung und trifft dort auf einen wildfremden Mann, der sich als Dirks Vater ausgibt und dessen Laptop mitnehmen will. Grober Fehler: Lona weiß, dass Gregor Reisacher schon vor Jahren verstorben ist und ruft die Polizei. Der Typ gibt Fersengeld.

Ein Erwachsener darf sich bekanntlich aufhalten, wo er will, ohne seinen Angehörigen vorher Bescheid zu sagen. Die Polizei unternimmt in solchen Vermisstenfällen normalerweise nichts. Aber das hier ist jetzt schon ein bisschen seltsam. Erschwerend kommt hinzu, dass gleichzeitig mit Dirk sein bester Kumpel Brynjar Egillsson verschwunden ist, ein Isländer, der in Konstanz studiert. Und dass Dirks Schwester Claudia, eine Tätowiererin, die man in der Szene nur unter dem Namen „Bellatrix“ kennt, eine unheimliche Nachricht ihres Bruders auf der Mailbox ihres Handys vorfindet: „Die Sonne schmeckt am besten rückwärts“ sagt er zu ihr, dann gibt’s Kampfgeräusche und das Handy ist tot. Und Dirk? Was ist mit ihm?

Eine Geheimbotschaft für die Schwester


Claudia erkennt tatsächlich so etwas wie einen Sinn in Dirks kryptischer Botschaft. Sie ist in der Geheimsprache ihrer Kindheit abgefasst. Offenbar wollte Dirk auf etwas oder jemanden namens „Ennos“ hinweisen. Aber was ist das? Ein neues Antidepressivum aus Österreich? Ein Unternehmen für innovative Energiesysteme in Freiburg? Claudia bespricht sich mit Lona, und die spannt Brynjars WG-Mitbewohner Farid und Daniela sowie seinen aus Island angereisten älteren Bruder Arnar in die Recherchen mit ein.

Wie’s aussieht, hatte Dirks isländischer Kumpel ein paar höchst dubiose Bekannte. Dasselbe gilt für Dirks arglose Schwester Claudia, die beispielsweise keine Ahnung davon hat, was ihr Chef Morten „Moriarty“ Müller nach Feierabend so treibt.

Was ist Dirk zugestoßen? Lona will’s wissen


Aus purer Loyalität und Hilfsbereitschaft ist Dirk Reisacker offenbar in eine gefährliche Geschichte hineingeraten, die nicht gut für ihn ausging. Und Lona, die seinen Spuren folgt, um herauszufinden, was ihm zugestoßen ist, droht alles zu verlieren, was ihr lieb und teuer ist. Der Fall wird für sie zu ihrer persönlichen Götterdämmerung. Sie kann froh sein, wenn sie aus dieser Geschichte lebend herauskommt.

Als LeserIn hofft, bangt und leidet man mit Lona und identifiziert sich so restlos mit ihr, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, die Perspektive der Mütter einzunehmen, selbst wenn man Ute Mende und Elvira Reisacher altersmäßig deutlich näher steht als der jungen Protagonistin. Okay, diese Mütter sind auch sehr, äh, gewöhnungsbedürftige Exemplare. Warum sind Mütter in Romanen eigentlich immer solche Mistbienen?

Weltoffen und multikulturell


Wer bei einem Regionalkrimi automatisch davon ausgeht, es mit biederen, etwas engstirnigen, Dialekt sprechenden Einheimischen zu tun zu bekommen, wird überrascht sein, wie weltoffen und multikulturell es in diesem Roman zugeht. Ein Teil der Geschichte spielt in Island und bringt uns unter anderem die Mythologie des Landes näher. Wir erfahren allerhand über Trolle, Elfen und die Götterdämmerung Ragnarök. Das war ja nicht nur die reine Zerstörung, sondern auch ein Anfang. Vielleicht liegt auch in der kompletten Auslöschung von Lonas altem Leben irgendwo die Chance für einen Neubeginn. Dass das Leben auch nach den größten Katastrophen irgendwie weitergeht, hat sie inzwischen schon gelernt.

Neben Dirks Schwester ist nicht nur der Isländer Arnar für Lona eine große Hilfe, sondern auch der Marokkaner Farid, Brynjars Mitbewohner. Farid ist freundlich und fürsorglich, hört zu, nimmt Anteil – und liefert einen entscheidenden Hinweis. Auf ihn ist Verlass.

Auch wenn Lona gläubige Christin ist und im Münster, der Abteikirche Sankt Maria und Markus des ehemaligen Benediktinerklosters einen Kraftort gefunden hat, schöpft sie Trost aus den Geschichten über die Hindu-Gottheiten, die ihr der indischstämmige Kriminalkommissar Surendra Sinha aus Friedrichshafen erzählt. (Ob jetzt irgendwo in Ingrid Zellners und Simone Dorras KASHMIR-SAGA die Rede auf einen entfernten Cousin der Familie kommt, der in Deutschland bei der Polizei arbeitet? Ein Crossover? 😉 )

Konstanz und die Insel Reichenau mögen jeweils einen überschaubaren „Kosmos“ darstellen, aber kulturell schaut das Romanpersonal hier weit über seinen Tellerrand hinaus.

Viele Wendungen und Überraschungen


Der Kriminalfall wartet mit immer neuen Wendungen und überraschenden Querverbindungen auf. Das bringt Spannung, war mir aber fast schon zu viel des Guten. Es wäre mir zum Beispiel lieber gewesen, wenn Lonas Vater seinen Unfall selbst verschuldet hätte. Deutlicher will ich an dieser Stelle nicht werden. Wer das Buch liest, wird wissen, was ich meine.

Regionalkrimis scheinen ja grundsätzlich auf eine Serie angelegt zu sein. Dieser hier ist so konsequent aus der Sicht einer Opfer-Angehörigen erzählt, dass von Lonas Story keine Fortsetzung zu erwarten ist. Was ich mir allenfalls vorstellen könnte: dass man den Friedrichshafener Kommissar mit den indischen Wurzeln zum Serienhelden macht und künftige Fälle aus seiner Perspektive erzählt. Ein Hindu am Bodensee. Das könnte interessant werden.

Die Autorin
Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München. Veröffentlichung von Romanen, Krimis, einem Kinderbuch, Kurzgeschichten, Theaterstücken, CD-Booklet-Texten und Artikeln. Freiberufliche Tätigkeit u.a. als Übersetzerin (Schwedisch) sowie als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin.
www.ingrid-zellner.de
www.facebook.com/ZellnerIngrid
www.kashmirsaga.de

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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