Der Zahn der Zeit

Letze Woche war ich bei einer Veranstaltung und habe dort Menschen wiedergesehen, mit denen ich zuletzt vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tun hatte. Vermutlich war das für alle Anwesenden wieder mal eine Gelegenheit zu erkennen, wie unterschiedlich gnädig die Zeit mit einzelnen Personen umgeht. Und wieder einmal ist mir aufgefallen, wie unheimlich schwer es ist, sich vorzustellen, wie stark jemand gealtert sein muss, den man eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hat.

Weil ich bei einer entsprechenden Personengruppe stand, haben mich ältere Herrschaften für eine meiner Tanten gehalten. Gut: So ganz aus der Welt war diese Vermutung nicht:

  • Wir haben eine gewisse Familienähnlichkeit.
  • Es wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass sie zu der Veranstaltung kommt.
  • Ich stand, wie gesagt, inmitten gemeinsamer Verwandter und Bekannter.
  • Und sie war recht jung, als sie weggezogen ist. So genau haben sich die Leute nicht mehr an sie erinnert.

Man müsste schon nachrechnen …


Man hätte schon rechnen müssen um sich darüber klar zu werden, dass sie inzwischen auch an die 80 sein muss. 😉 Nicht, dass ich jetzt beleidigt wäre, weil man mich mit ihr verwechselt hat. Ich würde mich freuen, wenn ich mich in dem Alter so gut halten würde wie sie.

Das ist nicht das einzige Erlebnis dieser Art. Es kommt jetzt eben verstärkt zum Tragen, weil ich nach Jahrzehnten wieder in meinen Heimatort zurückgekehrt bin.

Vor einiger Zeit sprach mich beim Einkaufen ein Ehepaar an:
„Gell, du bist doch die Tochter vom Alois?“
Ich hatte keine Ahnung, wer die beiden waren. Zwei der zahllosen Bekannten meiner Eltern.
Die Gesichter kamen mir vage bekannt vor.
„Ja“, sagte ich, „die bin ich. Und ich wohne jetzt wieder hier.“
Das wussten sie schon.
„Siehst du“, sagte die Frau zu ihrem Mann. „Ich hab dir gleich gesagt, dass das nicht sein kann!“
Er brummte irgendwas.

Nicht mehr das Fräulein von damals


An mich gewandt erklärte die Frau: „Weißt du, mein Mann hat nämlich behauptet, das junge Fräulein, das immer das Fahrrad hier den Berg hochschiebt, das wärst du.“
Ich wusste gleich, wen sie meinte. So dünn und langhaarig wie die junge Frau war ich, als ich von hier wegzog.
„Nein“, sagte ich, so jung bin ich nimmer.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wir alle nicht. Aber ich hab ihm gleich gesagt, dass das nicht sein kann. Du bist so ungefähr im Alter von unserer Karin. Also müsstest du jetzt auch so Mitte-Ende fuffzig sein.“
„Ja, das kommt in etwa hin“, sagte ich.
Der Mann sagte gar nichts.

Diese Frau hatte also eine realistische Vorstellung von der vergangenen Zeit und dem angemessenen Alterungsprozess, weil sie mit ihrer Karin eine Referenzperson im Kopf hatte. Die Leute, die nicht weiter über sowas nachdenken, haben einen immer so in Erinnerung, wie man „damals“ ausgesehen hat.

Ich falle ja selbst auf dieses Phänomen herein. Fast hätte ich neulich „Guten Abend, Frau K.!“ gerufen, als mir eine resolute Blondine entgegenkam, die schon am Ort gewohnt hatte, als ich ein Teenager war. Das wäre nicht einmal so verkehrt gewesen. Nur war es nicht die Frau K., an die ich mich aus meinen Teenietagen erinnerte, sondern ihre Tochter.

Foto: (c) marika / pixelio.de

Foto: (c) marika / www.pixelio.de

 

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