Susanne Goga: Die vergessene Burg. Roman, München 2018, Diana Verlag, ISBN 978-3-453-35972-7, Klappenbroschur, 447 Seiten, Format: 11,6 x 4 x 18,5 cm, Buch: EUR 10,99 (D), EUR 11,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,99.
Kings Langley, Herfordshire, England 1867: Paula Cooper, 32, ist intelligent, kultiviert, sympathisch und durchaus ansehnlich. Aber man hat ihr von klein auf eingebläut, dass sie vom Leben nichts erwarten darf. Als mittellose Halbwaise wird sie es nämlich nicht bekommen. Keinen Mann, keine Kinder, keine Reisen, keinen erfüllenden Beruf. Sie ist dazu bestimmt – oder soll ich sagen: verdammt? — , ein Leben als devote Hausangestellte zu fristen, der nicht einmal so harmlose Vergnügungen zustehen wie ein Besuch von Wohltätigkeitsveranstaltungen der Kirchengemeinde.
Paula versauert als“ Gesellschafterin“
Seit zwölf Jahren pflegt Paula jetzt Harriet, eine Cousine ihrer Mutter. Die ist allerdings eher hypochondrisch als wirklich krank. Ein kleiner Schwächeanfall zur rechten Zeit, und Harriet steht im Mittelpunkt allen Interesses.
Paula Cooper ist aber nicht das sanfte Lämmchen, das man sie darzustellen zwingt. Sie hat eigene Vorstellungen vom Leben. Das zurückgezogene Dasein in Kings Langley langweilt sie. Sie sitzt tagein, tagaus in verdunkelten Räumen am Krankenbett der Tante und verpasst den ganzen Spaß. Unbemerkt von ihrem Umfeld fallen die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen werden:
- In der Bibliothek der Pfarrersfrau entdeckt sie das Werk von Heinrich Heine und Bildbände über den Rhein. Sie ist fasziniert. Der Rhein wird für sie zum Sehnsuchtsort. Als Tante Harriet ihr eine öffentliche Lesung von Heine-Gedichten vermasselt, packt die junge Frau eine nie gekannte Wut. Wenn sie immer nur tut, was andere wollen, wird sie nie etwas zu ihrem eigenen Vergnügen tun können – und sie wird nie den Rhein sehen.
- Durch einen Zufall erfährt Paula, dass der Tod ihres Vaters keineswegs erwiesen ist, wie sie ihr Leben lang glaubte. Er ist lediglich vor dreißig Jahren spurlos verschwunden. Paula fühlt sich verraten. Ihre Mutter zur Rede zu stellen, hat allerdings wenig Sinn. Die versteckt sich, wie immer, hinter sorgsam geprobten Phrasen.
- Endgültig Schluss mit lustig ist, als Paula mitkriegt, dass Harriet und ihre Mutter einen Brief an sie unterschlagen haben. Sie besteht auf sofortige Herausgabe. Schließlich ist sie eine erwachsene Frau und niemand hat das Recht, ihre Post zu kontrollieren.
Der Brief kommt aus Bonn von Rudolph Cooper, dem Bruder ihres Vaters, der seit Jahrzehnten dort lebt. Er schreibt, er sei gesundheitlich stark angeschlagen und wolle Paula noch einmal sehen. Was meint er mit „noch einmal“? Paula hat nie zuvor von Onkel Rudy gehört. Was verschweigt ihre Familie ihr sonst noch?
Was weiß der Onkel über Paulas Vater?
Vielleicht weiß der Onkel ja etwas über den Verbleib ihres Vaters. Paula schmeißt Mutter und Tante den Krempel vor die Füße, wohl wissend, dass es kein Zurück mehr für sie geben kann, und reist allein nach Deutschland. Ihr Wagemut und die Entschlossenheit, mit der sie alle Brücken hinter sich abbricht, überraschen sie selbst. Aber es fühlt sich gut an.
Onkel Rudy, ein freundlicher, etwas exaltierter älterer Herr, der in Bonn einen Andenkenladen betreibt, heißt sie herzlich willkommen. Alles, was er über das Schicksal seines Bruder sagen kann, ist jedoch, dass dieser 1837 nicht mehr von einer Rhein-Schifffahrt zurückgekehrt ist. Rudy hat damals ungeprüft die Behauptung geglaubt, dass William freiwillig sein altes Leben hinter sich gelassen habe. Zweifel daran kamen ihm erst viel später, doch da war die Spur kalt und seine Recherchen liefen ins Leere.
Jahrzehnte alten Geheimnissen auf der Spur
Paula ist verblüfft: Ihr Vater ist in Deutschland verschwunden? Sie hat nicht einmal gewusst, dass ihre Familie sich jemals hier aufgehalten hat. Sie beginnt nachzuforschen, was bei einem 30 Jahre alten Vermisstenfall gar nicht so einfach ist. Unterstützung bekommt sie unter anderem vom Fotografen Benjamin Trevor, dessen Eltern sich noch gut an den tragischen Fall des abgängigen Familienvaters erinnern können. Schnell findet sie heraus, was man schon vor 30 Jahren mühelos hätte in Erfahrung bringen können: Was Margaret Cooper über das Verschwinden ihres Mannes erzählt, hält keiner Überprüfung stand.
„Alle Fragen, die mich quälen, sind miteinander verbunden, und darum muss ich unbedingt herausfinden, was damals mit meinem Vater geschehen ist – für dich, für mich und für ihn“, sagt Paula zu ihrem Onkel. „Mein Vorhaben mag verrückt und aussichtslos erscheinen, aber ich werde keine Ruhe finden, ehe ich es weiß. Und wenn ich selbst auf Reisen gehen und seinen Spuren folgen muss, werde ich es tun.“ (Seite 277)
Genau das tut sie – zusammen mit Benjamin Trevor. So tief ist die Vorstellung in ihr verwurzelt, kein Anrecht auf Freude im Leben zu haben, dass sie ein schlechtes Gewissen hat, weil sie diese Reise trotz des ernsten Hintergrunds genießt.
Dieser Mix aus historischem Reisebericht, Familiendrama und Krimi ist natürlich ein besonderes Erlebnis, wenn man die Region kennt. Aber Ortskenntnis ist keine zwingende Voraussetzung.
Ein Roman wie ein Roadmovie
Ein bisschen was hat der Roman von einem „Roadmovie“, auch wenn die Protagonistin mit dem Schiff unterwegs ist. 😉 Auf ihrer Reise zu den Geheimnissen ihrer Familie legt Paula nach und nach die Einstellungen und Verhaltensweisen ab, die man ihr aufgezwungen hat und wird zu der selbstbestimmten und zielstrebigen Frau, die man sie nie hat sein lassen.
Der Schluss ist überraschend und böse. Mit allem hätte ich gerechnet, aber damit nicht!
Auch wenn die Protagonistin hier Detektivarbeit leistet: Wilde Action sollte man nicht erwarten. Paulas Reise durchs Rheinland, durch die Vergangenheit und zu sich selbst fließt im gemächlichen Tempo der damaligen Zeit. Diese Geschichte braucht keine moderne Hektik. Genau wie Paula will man als LeserIn unbedingt wissen, was aus William Cooper geworden ist.
Und schlauer wird man auch!
Neben der eigentlichen Handlung erfährt man noch viele interessante Fakten. Mir war zum Beispiel nicht klar, dass die Briten praktisch die Entdecker der Rhein-Romantik waren und dass es im 19. Jahrhundert in Bonn eine britische „Kolonie“ gab, die 4% der damaligen Stadtbevölkerung umfasste und über eigene Kirchengemeinden und Kulturvereine verfügten. Dass Onkel Rudy aufgrund seiner persönlichen Lebensumstände geradezu gezwungen war, im Ausland zu leben, war mir gleichfalls neu. So wird man gut unterhalten und dabei auch noch schlauer.
LeserInnen, die gerne das Drumherum eines Romans lesen, samt Nachwort und Danksagung, bevor sie sich der eigentlichen Geschichte widmen, sollten bei diesem Buch besser die vorgesehene Reihenfolge einhalten. Wer den Anhang zuerst konsumiert, weil ihn die Recherchen der Autorin interessieren, könnte vorzeitig Rückschlüsse auf die Auflösung ziehen. Dies zur Warnung
Die Autorin
Susanne Goga, 1967 geboren, ist eine renommierte Literaturübersetzerin und SPIEGEL-Bestsellerautorin. Sie wurde mit dem DELIA-Literaturpreis sowie dem Goldenen Homer ausgezeichnet und ist seit 2016 Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Mönchengladbach.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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