Carolin Hagebölling: Der Brief. Roman

Carolin Hagebölling: Der Brief, Roman, München 2019, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-21772-9, Softcover, 219 Seiten, Format: 12,3 x 2,2 x 19 cm, Buch: EUR 9,95 (D), EUR 10,30 (A), Kindle: EUR 8,99.

Abbildung: (c) dtv

Marie Kluge, 30 +, ist Journalistin und wohnt mit ihrer Lebensgefährtin Johanna, einer Architektin, in Hamburg. Ihr Leben läuft in geregelten Bahnen, bis sie unverhofft einen Brief von ihrer ehemaligen Schulkameradin Christine Hausmann bekommt, mit der sie 15 Jahre lang keinen Kontakt mehr hatte. Christine hatte den Brief ursprünglich an eine Adresse in Paris geschickt, wo Marie aber nie gewohnt hat. Und sie wundert sich, dass das Schreiben überhaupt den Weg zu ihr nach Hamburg gefunden hat.

Ein Brief mit verstörendem Inhalt

Der Briefinhalt ist noch seltsamer: Christine geht offenbar davon aus, dass Marie zusammen mit ihrem Ehemann Victor in Paris lebt und dort eine erfolgreiche Kunstgalerie betreibt. Und dass sie schwer krank sei. Sie selbst erzählt von ihrem Leben in Berlin und einer Tochter namens Amelie. Marie weiß aber von ihren Eltern, dass Hausmanns ihre Heimatregion nie verlassen haben. Ihre Mutter und Christine laufen sich ab und zu über den Weg. Und eine Tochter haben sie auch nicht, nur einen Sohn namens Paul.

Denkt Christine sich das alles aus? Hat sie vielleicht ein psychisches Problem? Das wissen Maries Eltern natürlich nicht.

Beim nächsten Elternbesuch geht Marie unangemeldet zu Christine und konfrontiert sie mit dem mysteriösen Brief. Die Schulkameradin bricht weinend zusammen. Da muss sich jemand einen makaberen Scherz erlaubt haben. Aber woher weiß dieser Jemand, dass Christine vor ein paar Jahren eine Fehlgeburt gehabt hat und dass das Kind den Namen Amelie hätte bekommen sollen? Sie haben nie mit Außenstehenden darüber gesprochen!

Christine ist völlig außer sich und wirft ihre Besucherin hinaus. Für Marie ist jetzt alles klar: Ihre Schulfreundin hat da ein fettes Problem!

Wer fälscht hier Post? Und warum?

Doch dann bekommt auch Christine einen Brief: aus Paris, in der Handschrift von Marie. Und auch darin ist von alternativen Lebenswegen die Rede, die die beiden Frauen zwar mal erwogen, aber nie beschritten haben. Und den Briefen liegen Fotos bei: Fotos von Kindern, Partnern, Wohnungen und Arbeitsplätzen, die es so nicht gibt.

Warum gibt sich jemand so viel Mühe, die beiden Ex-Klassenkameradinnen komplett aus der Fassung zu bringen? Ihr Mitschüler Martin, vielleicht, für den eine harmlose Aktion damals dramatische Konsequenzen hatte? Wie sich jetzt herausstellt, ist das einzige, was die fiktive Marie (Paris) und die reale Marie (HH) gemeinsam haben, eine medizinische Diagnose. Es ist völlig ausgeschlossen, dass Martin noch vor Marie (HH) davon erfahren haben kann. Also auch eine Sackgasse?

Freundin Johanna macht sich Sorgen um Marie und lässt die Briefe und Fotos von einem Sachverständigen untersuchen. Das müssen doch Fälschungen sein und deren Verursacher hat vielleicht Spuren hinterlassen. Doch das mit dem Gutachten dauert.

Spurensuche in Paris

Marie (HH) verdrängt derweil ihre bedrohliche Diagnose und besucht ihren Studienfreund André, der in Paris eine Werbeagentur hat. Es hat in der Tat einen Punkt in ihrem Leben gegeben, an dem sie ihm dorthin folgen wollte. Und dann ist es doch anders gekommen und sie ist in Hamburg gelandet.

  • Überraschung Nr. 1: Marie spricht fließend Französisch. Das verblüfft sie selbst.
  • Überraschung Nr. 2: Victor Dupont und seine Kunstgalerie gibt es wirklich. Er gehört zum weiteren Bekanntenkreis von André und dessen Freund Louis.

Mobbing, Psychose oder Parallelwelten?

Jetzt ist Marie restlos verwirrt. Entweder, das ist eine sehr raffinierte Mobbing-Kampagne gegen Christine und sie – oder eine von ihnen beiden hat den Verstand verloren. Als Marie auch noch Anrufe bekommt, die es gar nicht geben kann und mit Menschen spricht, die niemand außer ihr sieht, konsultiert sie eine Psychiaterin. Vielleicht leidet sie ja unter Schizophrenie …?

Als skeptische Leserin sucht man zusammen mit der rationalen und pragmatischen Johanna verzweifelt nach einer logischen Erklärung für die Vorfälle. Ein Komplott? Eine Psychose? Aber da uns bewusst ist, dass wir uns in einer Romanwelt bewegen und nicht in der vertrauten Realität, können wir auch Christines Erklärungsversuchen etwas abgewinnen: Sie denkt so ein bisschen in Richtung „Parallelwelten“ und hofft auf eine alternative Wirklichkeit, in der ihre Tochter am Leben ist.

Während des Lesens war ich als eingefleischte Skeptikerin natürlich im „Team Johanna“, auch wenn ich mir Marie besser an Victors Seite als an ihrer vorstellen konnte. Ich suchte eine handfeste Erklärung und eine Möglichkeit, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Mobbern kann man das Handwerk legen, psychische Erkrankungen behandeln.

Was wäre, wenn …?

Die Vorstellung, dass irgendwo da draußen Welten existieren, in denen man nicht in A lebt, sondern in B, in denen man X statt Y geheiratet und sich beruflich vollkommen anders orientiert hat, fand ich dagegen schrecklich gruselig. Gut, wenn man den anderen Lebensverläufen nie etwas erfährt, ist das unproblematisch. Aber wenn einem jemand, wie es hier anscheinend geschieht, Einblicke in die alternativen Lebensentwürfe gewährt und diese womöglich deutlich attraktiver sind das Leben, das man in seiner eigenen Welt führt, wäre das doch maßlos frustrierend! Man bekommt gezeigt, was man hätte haben können, wenn man sich hier und da und dort anders entschieden hätte – und kann doch die Zeit nicht zurückdrehen. Also dann lieber eine Auflösung mit Mobbing oder Psychiatrie!

So wirklich befriedigend fand ich den Schluss ja nicht. Den letzten Brief hätte man meines Erachtens weglassen können. Das Fazit, das man den Leserinnen hier vorkaut, hätten sie auch noch selber ziehen können. Aber wegen der Gedanken, die man sich beim Lesen unweigerlich über die Scheidewege im eigenen Leben macht, lohnt sich die Lektüre.

Die Autorin

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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