Felicitas Fuchs: Romy. Mädchen, die pfeifen, (Mütter-Trilogie, Band 3), München 2023, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-42644-3, Klappenbroschur, 588 Seiten, Format: 13,6 x 4,3 x 20,7 cm, Buch: EUR 16,00 (D), EUR 16,50 (A).
„Siebenundfünfzig Jahre lang hatte Hanne ihr Geheimnis mit sich herumgetragen, wahrscheinlich hatte eine Lüge die nächste nach sich gezogen, und sie war irgendwann nicht mehr in der Lage gewesen, sich zur Wahrheit zu bekennen. Und nun war alles aufgeflogen.“
(Seite 539)
Wow, was für eine Geschichte! Wer Band 1 (MINNA) und Band 2 (HANNE) gern gelesen hat, wird diesen Band inhalieren und gar nicht merken, dass er fast 600 Seiten hat.
Eine Familie mit Geheimnissen
Vom ersten Band an wissen wir, dass Romy Lindemann, Jahrgang 1960, die uneheliche Tochter von Hanne Volkening ist und dass Hannes Mutter Minna damals mit dem Kindsvater eine Vereinbarung getroffen hat, die in den Augen ihres Bruders Karl schlichtweg kriminell war. Ich bin bestimmt nicht die einzige Leserin, die sich seit Band 1 fragt, was die da wohl gemauschelt haben. Dass Hanne dem Jugendamt den Namen des Vaters verschweigt aber trotzdem Unterhalt von ihm bekommt, war jetzt nicht über die Maßen korrekt aber keine Straftat. Nun, wir werden sehen …
Band 3 beginnt 1978 in Bad Oeynhausen: Romy hat keine Ahnung, dass Otto, der Mann ihrer Mutter, nicht ihr leiblicher Vater ist. Ja, sie ist anders als ihre wortkarge und etwas verdruckste Familie: temperamentvoll, offen, extrovertiert, schlagfertig und ein bisschen wild. Romy und ihre Eltern scheinen von verschiedenen Planeten zu stammen und das Verhältnis ist auch nicht so besonders.
Romy macht ihr eigenes Ding
Mit 17 zieht sie von zuhause aus und wohnt im Personalhaus des Hotels, in dem sie arbeitet. Ihre Eltern haben das so gleichgültig zur Kenntnis genommen wie alles im Leben und haben Romy nie in ihrer neuen Bleibe besucht. Dieses Desinteresse an allem und jedem ist einer der Gründe, warum Romy mit ihren Eltern nicht klarkommt. Jetzt macht sie ihr eigenes Ding.
Nun ist es schwierig, etwas über die Handlung zu erzählen, ohne zu viel zu verraten. Kenner:innen der Reihe wissen, dass die Mütter-Trilogie auf der Familiengeschichte der Autorin beruht. Felicitas Fuchs ist also das reale Vorbild für die Romanfigur Romy. Wer ihr in den sozialen Medien folgt, kennt schon Fragmente ihrer Lebensgeschichte. Also kann jetzt jede Andeutung eine zu viel sein.
Sagen wir so: Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob es im Leben vielleicht hilfreich wäre, wenn man ein Rollenvorbild für ein funktionierendes Ehe- bzw. Familienleben hätte. Romy hatte das nicht. Und ihre Vorfahrinnen, wie’s ausschaut, auch nicht. Hanne und Otto leben in einer Zweckgemeinschaft, Oma Minna war zweimal geschieden und selbst deren Herkunftsfamilie war, wenn ich mich recht erinnere, eher problematisch.
Blender, Gauner, Egoisten
Die flippige Romy, weit entfernt von der erlernten Hilflosigkeit ihrer Mutter, hat ein Faible für charismatische Männer, die deutlich älter sind als sie. Diese Kerle haben was erlebt und erreicht, besitzen Erfahrung, können interessant erzählen und ihr etwas bieten. Aber sie sind auch verantwortungslose Hallodris, die sich mit krummen Geschäften in Schulden stürzen und Romy mit in den Abgrund reißen. Hätte sie sich all das bieten lassen, wenn sie eine andere familiäre Vorgeschichte gehabt hätte? Oder hätten da beizeiten die Alarmglocken geschrillt: „Blender, Gauner, Egoisten! Nix wie weg hier!“?
Romy will heiraten Fliegt jetzt alles auf?
1984 kündigt sie ihrer Familie an, den D.J. und Gastronomen Falco Landau heiraten zu wollen. Der passt genau in ihr oben geschildertes Beuteschema. Hanne ist nicht begeistert. Erstens, weil sie den großspurigen Kerl nicht mag und zweitens, weil Romy für die Heirat ihre Geburtsurkunde braucht und dann ans Licht kommt, dass Otto Lindemann nicht ihr Vater ist. Statt endlich mit ihrer Tochter über die Vergangenheit zu reden, macht Hanne das, was sie von klein auf mit Problemen macht: Sie sitzt sie aus und hofft, dass sich alles von selbst regelt. Als ob das jemals funktioniert hätte!
Romy fällt aus allen Wolken, als sie das Dokument in Händen hält und liest, was da bei „Vater“ steht. Dem Leser geht’s ähnlich und man beginnt zu ahnen, was damals Gegenstand der Vereinbarung zwischen Oma Minna und Romys Erzeuger war. Ja, das ist wirklich nicht ohne! Onkel Karl hatte recht.
Die Sprachlosigkeit in der dysfunktionalen Familie Lindemann bleibt jedoch bestehen. Romy sagt zunächst kein Wort über ihre Geburtsurkunde, und ihre Mutter freut sich schon, dass sie davongekommen ist. Als die Tochter sie irgendwann doch mit ihrem Wissen konfrontiert, reagiert Hanne abweisend und einsilbig. Romys eigene Nachforschungen sind auch nicht sehr ergiebig. Und irgendwann rückt dieses Thema in den Hintergrund. Das Leben kommt dazwischen.
Das Arrangement hat seinen Preis
Romy macht Karriere in der Hotelbranche, während ihr Mann beruflich auf keinen grünen Zweig kommt. Er ist es dann, der die zwei gemeinsamen Söhne versorgt, während sie arbeitet. So ein unkonventioneller Rollentausch kommt bei ihrer kleinbürgerlichen Verwandtschaft natürlich gar nicht gut an. Den beiden ist das egal. Für sie funktioniert dieses Arrangement. Und Romy würde alles tun, um ihren beiden Jungs den Vater zu erhalten. Die sollen nicht so aufwachsen wie sie. Auch wenn das bedeutet, dass sie vor manchen Aktivitäten ihres Mannes die Augen verschließen muss. Wie lange das wohl gut geht …?
Die Söhne sind längst aus dem Haus, als Romy die Nachforschungen nach ihrem leiblichen Vater wieder aufnimmt. Er ist inzwischen verstorben, aber mit seiner Verwandtschaft könnte man ja Kontakt pflegen. Vielleicht kann ihr jemand ein Foto von ihm geben. Ihre Mutter hatte keins.
Josef lässt die Bombe platzen
Cousin Marian erweist sich als recht zugänglich und fragt in seiner Familie herum. Cousin Josef lässt schließlich die Bombe platzen …
Erster Impuls beim Lesen: „Diese verlogene Bagage würde ich mit dem A*** nicht mehr anschauen!“ Aber die Wut auf die Romanfiguren hält nicht lange an. Wir kennen ja von allen wichtigen Personen die Vorgeschichte. Und Romy kennt sie nun auch. Wenn die Menschen hier noch so unvernünftig handeln, ist das aus deren Sicht stets folgerichtig und nachvollziehbar. Jeder hat hier etwas, das er um jeden Preis (be)schützen möchte und geht dabei sehr, sehr weit. Selbst die fiesesten Gestalten haben einen einleuchtenden Grund für ihr Tun.
Jeder hatte seine Chance
Sehr berührend ist die Geschichte von Michi und der Abschied von Falco. Das ist mir bis in meine Träume nachgegangen. Ob’s den Schwager mit dem Getränkehandel auch „in echt“ gibt? Wenn ja, wird er sich sein literarisch verfremdetes Porträt bestimmt nicht hinter den Spiegel stecken. 😉 Der kommt hier gar nicht gut weg! Aber laut der Autorin hatte jede:r seine faire Chance:
„Alle Beteiligten konnten das Manuskript jederzeit lesen und Änderungswünsche kundtun. Das ist aber nie geschehen.“
(Seite 584)
Ich könnte mir diese Trilogie gut als Fernseh-Mehrteiler vorstellen. Ich bin sonst kein Serienfan. Aber da würde ich vor der Glotze kleben!
Die Autorin
Felicitas Fuchs ist das Pseudonym der Erfolgsautorin Carla Berling, die sich mit Krimis, Komödien und temperamentvollen Lesungen ein großes Publikum erobert hat. Schon bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie als Reporterin und Pressefotografin immer sehr nah an den Menschen und ihren Schicksalen. In ihrer dramatischen Familiengeschichte verarbeitet sie autobiografische Elemente zu einer packenden Trilogie über drei starke Frauen.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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