Marc Voltenauer: Die Nacht des Blutadlers. Kriminalroman 

Marc Voltenauer: Die Nacht des Blutadlers. Kriminalroman, OT: L’Aigle de sang, aus dem Französischen von Franziska Weyer, Köln 2024, Emons Verlag, ISBN 978-3-7408-2032-9, Klappenbroschur, 478 Seiten, Format: 13,9 x 3,5 x 21,7 cm, Buch: EUR 20,00 (D), EUR 20,60 (A), Kindle: EUR 15,99.

Abb.: (c) Emons Verlag

Nach einer Stunde Recherche gab er auf und ging in den Hof hinaus. Er war völlig verwirrt. Die alte Frau saß noch immer auf der Bank. Er setzte sich neben sie.
„Hast du was gefunden?“
„Der, der ich angeblich war, scheint nicht existiert zu haben.“
 

(Seite 82/83)

Bei dieser Buchreihe war’s für mich Liebe auf den dritten Blick. In den beiden Vorgängerbänden empfand ich den Protagonisten als unerträglich selbstverliebt. Im vorliegenden dritten Band hat er nun so viel um die Ohren, dass ihm gar keine Zeit bleibt, mit seinem Verstand, seinem Vermögen oder seiner kultivierten Lebensart zu protzen. Und, siehe da, auf einmal ist das ein richtig aufregender Krimi!

Mit Ausnahme kleiner Exkursionen in die Zeit des Zweiten Weltkriegs springt die Handlung zwischen 1979 und 2016 hin und her. Der Leser weiß aber stets, wo er sich befindet.

Gryon/Schweiz 2016: Zwei Jahre sind seit den dramatischen Ereignissen im letzten Band vergangen (Marc Voltenauer: WER HAT HEIDI GETÖTET?). Nur langsam erholt sich der Journalist Mikael Achard, Lebensgefährte des Kriminalkommissars Andreas Auer (43) von seiner schweren Schussverletzung. Die hat er sich zugezogen, als er persönlich in einen Fall seines Partners eingegriffen hat. Er hätte es dabei bewenden lassen sollen, Andreas bei seinen Recherchen zu unterstützen.

Jetzt wissen wir, welches Familiengeheimnis Andreas‘ ältere Schwester Jessica ihm im letzten Band verraten wollte: Er ist gar nicht ihr leiblicher Bruder, sondern wurde im Alter von 5 Jahren adoptiert. Er kommt aus Schweden, wie seine (Adoptiv-)Mutter Kajsa. Jessica hat schwören müssen, ihm das nie zu erzählen, weil er damals Schreckliches erlebt hat und davon traumatisiert war. Aber jetzt sind sie längst erwachsen und sie will nicht länger schweigen.

Andreas ist stinksauer. Das hat ihm seine Familie 37 Jahre lang verheimlicht? Er fühlt sich hintergangen, aber auch ein bisschen erleichtert, denn das erklärt, warum er keine Erinnerung an seine frühe Kindheit hat, wieso es keine Babyfotos von ihm gibt und auch seine immer wiederkehrenden Albträume könnten mit seiner Vergangenheit zusammenhängen. Was er Entsetzliches durchmachen musste, weiß seine Adoptivfamilie nicht. Nur, dass seine leiblichen Eltern tot sind.

Jetzt will’s der Kommissar genau wissen und reist nach Gotland, wo seine Wurzeln liegen sollen. Dort ist man nicht besonders erfreut darüber, dass nach all den Jahren einer daherkommt, Fragen stellt und sich mit keiner Antwort zufriedengibt. Estnischer Abstammung soll Andreas sein und zwei Schwestern haben. Seine Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Aber diese Information hält keiner näheren Überprüfung stand.

Nach und nach kehren bei ihm Erinnerungsfetzen zurück. Ein Haus erkennt er wieder und manch einer scheint ihn zu erkennen – oder zumindest eine Familienähnlichkeit. Kann es sein, dass er der einzige Überlebende eines Massakers ist, das vor 37 Jahren das ganze Land erschüttert hat? Einiges deutet darauf hin. Das Problem ist nur: Damals wurde eine komplette Familie ausgelöscht. Es hat keine Überlebenden gegeben.

Gotland 1979: Zwei Studenten, eine Polizistin und ein Goldschmied gründen einen Wikinger-Clan, „Freyas Kinder“. Sie geben sich Wikingernamen, verkleiden und maskieren sich und zelebrieren „historische“ Rituale oder was sie dafür halten. 13 Personen sind sie, aber nur die vier Gründer kennen alle Identitäten. Die einfachen Mitglieder wissen nicht, wer hinter den Masken steckt. 

Was anfängt wie ein harmloses Rollenspiel – ein bisschen esoterischer Mumpitz für gelangweilte junge Leute – läuft nach einiger Zeit furchtbar aus dem Ruder. Die Rituale werden immer blutiger und brutaler. Nicht alle Mitglieder sind mit der Entwicklung einverstanden, sie kommen aber aus dieser Nummer nicht mehr raus. Jedenfalls nicht lebend. 

Zurück in der Gegenwart: Jetzt, fast 40 Jahre später, ist diese Gruppe in alle Winde zerstreut. Und obwohl die (Straf-)Taten von damals inzwischen verjährt sind, bedroht der „Jarl“, der Anführer, die Mitglieder nach wie vor mit dem Tod, sollten sie jemals mit Außenstehenden über den Clan sprechen. Die Leute wissen, dass er meint, was er sagt. Sie haben es selbst gesehen.

 „Freyas Kindern“ passt es natürlich nicht, dass jetzt dieser hartnäckige Schweizer hier rumrennt und alles auf links dreht, weil er wissen will, was damals geschehen ist und was seine Rolle dabei war. Hätten sie die Nerven behalten und weiterhin Unwissenheit geheuchelt („Ein Wikinger-Clan? Ja, das Gerücht ging damals um, aber geredet wird viel …“), wäre wahrscheinlich nichts passiert. Aber sie werden nervös und treffen sich wieder. Und manch einer überlebt dieses Wiedersehen nicht.

Abtrünnige hinzurichten war jetzt nicht die beste Idee des Clans. Denn nun ermittelt die Polizei. In den verjährten Fällen hätte sie das nicht getan. Ein paar Mitläufer gehen den Ermittlern zwar ins Netz, aber die wissen nicht viel. Die Führungsspitze müssen sie erwischen: den „Jarl“ und seine drei „Priester“. Aber wie, wenn keiner den Mund aufmacht?

Ist hier überhaupt jemand der oder das, was er zu sein vorgibt? Je weiter Andreas Auer mit seinen Nachforschungen vorankommt, desto verwirrter wird er. Wieso kennen die Leute hier auf Gotland seinen deutschen Adoptiv-Großvater als Franz? Er hieß doch Andreas, so wie er! Und seine Großmutter war Schwedin? Nein, die war doch Deutsche, oder? 

Der arme Kommissar hat jetzt so viele Variationen seiner Familiengeschichte gehört, dass er sich überhaupt nicht mehr auskennt. Für ihn selbst gibt’s drei verschiedene Vor-und Zunamen, und keiner davon scheint der richtige zu sein. Ja, eine Identität ist keine statische Größe! Was ist schon ein Name, eine Nationalität oder Religion? Das kann man alles ändern, legal oder illegal.

Andreas Auer kann einem leid tun, weil er so durch den Wind ist. Und weil ihm dämmert, dass er es ist, der hier im Wespennest herumstochert und damit ein paar Todesfälle mitverursacht. Wie nahe er der Wahrheit schon gekommen ist, wird er bald schmerzhaft feststellen …

Ich fand’s überaus spannend zu sehen, wie diese Wikinger-Geschichte entgleist: vom Freizeitvergnügen zum Macht- und Blutrausch. Wie der Kommissar von einer falschen Fährte zur nächsten hetzt, ist ebenfalls packend. Er mag ein Meister seiner Profession sein, aber hier hat er es mit Leuten zu tun, die manche Dinge schon länger vertuschen als er auf der Welt ist. 

Es gibt ein paar drastische Szenen. Davon bin ich normalerweise kein Fan, aber irgendwie muss Marc Voltenauer ja zeigen, wie krass hier manche neben der Spur laufen. – Was mich noch interessieren würde: Wie er auf die Idee kommt, Vera Jakobsson eine „alte Frau“ zu nennen. Sie ist in der Szene 49, also jünger als der Autor selbst (Seite 356). Wenn man ihn als alten Mann bezeichnen würde, wäre er bestimmt beleidigt. Wetten? 😉

Marc Voltenauer, geboren 1973 in Genf, studierte zunächst Theologie und arbeitete dann im Bankwesen und in der Pharmaindustrie. Seine Romane gewannen in der Schweiz und in Frankreich renommierte Literaturpreise. Er lebt mit seinem Partner in dem kleinen Dorf Gryon in den Waadtländer Alpen, das ihm als Inspiration für seine Romane dient. www.marcvoltenauer.com

Franziska Weyer (Jahrgang 1965) ist gelernte Buchhändlerin, studierte Literaturübersetzerin und passionierte Pferdezüchterin. Seit ihrer Kindheit hat sie den Genfersee vom Haus ihrer Großmutter in Clarens aus erkundet und mittlerweile einen zweiten Lebensmittelpunkt in Chernex mit Blick auf den See und die Berge gefunden.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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