Ulrike Renk: Mademoiselle Marthe und die Küche der Freiheit. Roman

Ulrike Renk: Mademoiselle Marthe und die Küche der Freiheit. Roman, Berlin 2024, Aufbau Taschenbuch, ISBN 978-3-7466-4055-6, Softcover, 592 Seiten, Format: 13,4 x 4,5 x 20,7 cm, Buch: EUR 14,00, Kindle: EUR 10,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Aufbau Taschenbuch

„Vielleicht, dachte Marthe […], kann ich auf diese Art und Weise meinen Anteil dazu beitragen, dass Frauen sich mehr trauen. Im Haushalt und in der Küche. Sie würde wahrscheinlich nie glühende Protestartikel veröffentlichen, aber dennoch trat sie so für die Rechte der Frau ein. Das Recht auf Weiterbildung […], das Recht, etwas aus ihrem Leben zu machen.“ 

(Seite 520)

Die Informationen über das reale Leben der Marthe Marie Joséphine Distel (1871 – 1934) sind dünn gesät. Also musste die Autorin über weite Strecken ihre Fantasie walten lassen, um uns spannend und plausibel zu erzählen, wie aus einem einfachen Mädchen aus der französischen Provinz eine der ersten Journalistinnen in Frankreich wurde. Eine Frau, die eine eigene Kochzeitschrift herausgab und eine Kochschule gründete, die es heute noch gibt … in 15 Ländern. Wenn man den Roman gelesen hat, kann man sich sehr gut vorstellen, dass das genau so gewesen sein könnte.

Es beginnt 1885 in Remiremont, einem Städtchen in den Vogesen. Nach dem Tod ihres Mannes zieht Julie Distel mit ihrer Teenager-Tochter Marthe auf den kleinen Bauernhof ihrer Schwiegermutter Joséphine. Oma – „Grand-mère“ – ist ein harter Brocken. Sie hatte es nie leicht im Leben und sowohl ihren Ehemann als auch alle ihre Kinder überlebt. Sie liebt ihre Enkelin Marthe, kann das aber nicht zeigen. Das mit den Gefühlen ist nicht so ihr Ding. Aber sie will das Beste für Marthe. Sie soll etwas lernen, wenn möglich studieren, was aus ihrem Leben machen und nicht in der Einöde versauern.

Auch Schwiegertochter Julie hat als eine auf einem Gutshof ausgebildete Köchin andere Möglichkeiten, als auf dem Land Tiere zu versorgen und den Gemüsegarten zu pflegen. Nach Paris sollten die beiden gehen, findet Grand-mère. Julies Einwände, dass in den guten Restaurants nur Männer kochen und Frauen keine Chance haben, hält sie für eine Ausrede. Als ob es nicht genügend Privathaushalte gäbe, die eine begnadete Köchin wie Julie mit Handkuss einstellen würden!

Auch Marthe hat ein Talent zum Kochen. Mutter und Großmutter bringen ihr die Grundlagen bei. Und weil sie ein paar Jahre auf dem Bauernhof lebt und arbeitet, weiß sie, wie viel Mühe und Arbeit tierische und pflanzliche Lebensmittel machen, bis sie endlich verzehrfertig auf dem Tisch stehen. In dieser Zeit entwickelt sie eine besondere, respektvolle Beziehung zu traditionellen Rezepten und frischen, regionalen Produkten.

1887 haben es Julie und Marthe Distel tatsächlich nach Paris geschafft. Julie arbeitet als Köchin für die Familie Laurent, Marthe geht aufs Lyzeum – in die gleiche Klasse wie die Tochter des Hauses, Florence, die Standesgrenzen und -dünkel für völlig überholt hält. Ihre Eltern sind noch nicht so fortschrittlich und sehen es nicht gern, dass ihre Tochter mit der Tochter der Köchin befreundet ist. Als Florence ihre Freundin Marthe zur großen Weihnachtsfeier einlädt, fällt Madame und Monsieur Laurent die Kinnlade runter. Vor kurzem hat Marthe noch aushilfsweise die Gäste des Hauses bedient, jetzt soll sie selbst als Gast am Tisch sitzen? – Wenn sie erst wüssten, dass ihr Sohn Vincent ein Auge auf Marthe geworfen hat …!

Und was das Mädchen für Flausen im Kopf hat! Gleichberechtigung von Mann und Frau, ja, ist es die Möglichkeit!? Und Journalistin will sie werden! Kann sie nicht als Köchin arbeiten wie ihre Mutter? Oder ganz einfach heiraten? – Madame Deraismes, eine Freundin der Familie, bestärkt Marthe auch noch in ihren modernen Ideen. Die Laurents beklagen sich allerdings nur im Kreise der Familie. Mit ihrer Köchin Julie wollen sie es sich nicht verscherzen. So ein Juwel finden sie nie wieder!

Als Julie für ein großes Fest bei den Laurents zusätzliches Personal benötigt, bringt Pater Roussel – auch ein Freund der Familie -, voller Stolz zwei junge Mädchen aus dem Waisenhaus daher, das er leitet. Die Jungs dort lässt er in Lehrwerkstätten zu Handwerkern ausbilden, für die Mädchen gibt’s eine hauswirtschaftliche Ausbildung. Doch schnell stellt sich heraus, dass Camille und Emilie vom Kochen absolut keine Ahnung haben. Die „Lehrküche“ dort ist offensichtlich, pardon, keinen Pfifferling wert. So werden die jungen Mädchen nirgendwo eine Anstellung finden! 

Es dauert nicht lange, und Julie Distel führt in der Lehrküche das Kommando. Von Starkoch Auguste Escoffier übernimmt sie die innovativen Arbeitsabläufe – mit durchschlagendem Erfolg. Damit mehr Geld in die Kasse kommt, gibt sie dort auch Kurse für zahlende Privatkundinnen, die Kochen und Haushaltsführung lernen wollen oder müssen. Die Zeiten ändern sich, und Personal zu haben ist nicht mehr selbstverständlich.

Marthe, durch ihre Freundschaft mit Florence Laurent eine Grenzgängerin zwischen der Schicht der Herrschaften und der Dienstboten, hat inzwischen ihre Ausbildung abgeschlossen und versucht, ihre Artikel an verschiedene Zeitschriften zu verkaufen. Trotz hochkarätiger Fürsprecher ist das nicht leicht. Von ihr als Frau will man nichts Kritisches oder gar Politisches lesen, sie soll was „Weibliches“ schreiben, heißt es. Als die Verlagsleute spitzkriegen, dass sie was von Kochen und Haushaltsführung versteht, ist sie auf einen Themenbereich festgelegt. Marthe sieht das pragmatisch: Wenn es das ist, was den Schornstein zum Rauchen bringt, bitte, dann schreibt sie eben über Restaurants und Küchenthemen. Aber so wirklich lukrativ ist das nicht.

Finanziell kritisch wird’s, als für den Waisenhausleiter ein junger, dynamischer Nachfolger kommt. Dem passt nicht, wie Julie die Lehrküche führt. Das Ganze muss wirtschaftlicher werden, soll aber ohne private Kursteilnehmerinnen auskommen. Wie soll das gehen?

Marthe hat eine Idee: Wenn weder die Verlage noch die Arbeitgeber ihrer Mutter so wollen wie sie beide es gerne hätten, warum machen sie dann nicht ihr eigenes Ding? Eine private Kochschule und ein eigenes Kochmagazin. Das wär’s doch! Die Projekte könnten sich gegenseitig stützen und füreinander werben. Ein Risiko wäre das freilich, denn Rücklagen haben Mutter und Tochter kaum …

Mit Spannung und Interesse habe ich verfolgt, wie aus dem Bauernmädchen aus den Vogesen eine vom französischen Staat für ihre Verdienste ausgezeichnete Berühmtheit geworden ist. Und zudem feiert das Buch von der ersten bis zur letzten Seite den Genuss. Die Distel-Damen setzen auf Lebensmittel-Qualität sowie auf solides Wissen und Können. Essen ist für sie nicht nur notwendige Nahrungsaufnahme. Mutter und Tochter komponieren ein Menü wie ein Kunstwerk. Oma Joséphine bringt es schon auf den Punkt, als Marthe noch auf dem Hof lebt und eine unbedarfte Küchen-Novizin ist:

„Mahlzeiten sind auch Gefühle, vergiss das nie. Du weißt jetzt, woher die Nahrung kommt. Sie kommt aus dem Garten, wächst in der Erde. Man muss sie hegen und pflegen, man muss sich kümmern. Essen ist mehr als nur satt zu werden.“ 

(Seite 21) 

Essen ist Lebensgenuss, wie die Autorin im Nachwort schreibt. Man wünscht sich beim Lesen, so kochen zu können wie die Distel-Frauen. Oder wenigstens das probieren zu können, was sie in der Küche zaubern und was hier so überaus sinnlich beschrieben wird.

Ich als altmodisches Verlagswesen hätte mir im Korrektorat ein bisschen mehr Sorgfalt gewünscht, aber ich glaub‘, das ist heut einfach nicht mehr drin.

Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die Seidenstadt-Saga, die große Berlin-Saga um die Dichterfamilie Dehmel und zahlreiche historische Romane vor. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

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Rezensentin: Edith Nebel
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