Alena Schröder: Bei euch ist es immer so unheimlich still. Roman, München 2023, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28339-7, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 334 Seiten, Format: 13,8 x 3,55 x 21,5 cm, EUR 24,00, Taschenbuch: ISBN 978-3-423-22070-5, EUR 14,00, Kindle: EUR 10,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Mama will nicht, dass ich ihr helfe“, hatte Silvia erwidert und dabei umständlich einen neuen Faden in ihre Sticknadel gefädelt. „Ich bin zu langsam. Und Mama ist nicht erschöpft, Mama ist traurig. Weil sie keine Ärztin mehr sein kann wegen mir.“
(Seite 159)
Familiengeheimnisse – von der Nachkriegszeit bis zur Wende
Geheimnisse gibt es in der Familie Borowski reichlich. Das eine oder andere wurde schon im Roman JUNGE FRAU, AM FENSTER STEHEND, ABENDLICHT, BLAUES KLEID aufgedeckt. Da ging es um Evelyn, die von ihrer Mutter Senta im Stich gelassen und von einer Tante aufgezogen wurde. Jetzt ist Evelyns Tochter Silvia an der Reihe, uns ihre Geheimnisse anzuvertrauen und gleich noch eines aus der Generation ihrer Eltern zu enthüllen.
Bis wir Leser:innen über die folgenreichen Ereignisse aus der Vergangenheit im Bilde sind, springt die Geschichte kreuz und quer durch die Jahrzehnte – von der Nachkriegszeit bis zu Wende.
Evelyn bleibt eine Fremde
Ildingen, eine schwäbische Kleinstadt, in den 1950er-Jahren: Mit falschen Papieren ist die Internistin Evelyn nach dem Krieg nach Ildingen gekommen und hat dort alsbald in die Akademikerfamilie Borowski eingeheiratet. Den Einheimischen passt es natürlich nicht, dass sich ausgerechnet eine „Neigschmeckte“ von weiß-Gott-woher den begehrtesten Junggesellen schnappt, aber niemand traut sich, etwas gegen die einflussreichen Borowskis zu sagen.
Dass Evelyn im Ort gesellschaftlich keinen Fuß auf den Boden kriegt, fällt ihr gar nicht auf. So gut sie mit Patienten umgehen kann, so wenig kommt sie im Privatleben mit den Menschen klar. Sie braucht die Nachbarinnen und Landfrauen nicht, ihr genügt die Gesellschaft ihres Ehemanns, des Chirurgen Karl Borowski. Selbst von Schwägerin Betti, mit der sie sich anfangs gut verstanden hat, hat sie sich inzwischen entfremdet.
Die Ärztin wünscht sich sehnlichst ein Kind. Wer den ersten Band gelesen hat, fragt sich alarmiert WARUM? Sie ist kein bisschen mütterlicher als ihre eigene Mutter, und sie wird für ihr Kind ihren geliebten Beruf aufgeben müssen. Das ist eine Express-Fahrkarte in die Katastrophe!
Wie die Mutter, so die Tochter
1956 kommt Tochter Silvia zur Welt und die Geschichte wiederholt sich in leicht abgewandelter Form: Silvia ist ein kränkliches und schwaches Kind, das nicht essen oder trinken mag, ständig vor sich hin weint und sich vor allem möglichen fürchtet. Evelyn ist frustriert, weil sie als Hausfrau und Mutter keinerlei Erfolgserlebnisse hat. Sie vermisst schmerzlich die Anerkennung, die mit ihrem Beruf verbunden war.
Das Ende vom Lied: Silvia wächst überwiegend bei den kinderreichen Nachbarn und bei Tante Betti auf und landet nach einem „Vorfall“ in einem Internat. Evelyn atmet auf. Endlich ist dieses Kind weg, und sie kann wieder im Krankenhaus arbeiten!
Silvia wird „wegorganisiert“
70er-Jahre: In den Ferien kommt Silvia zwar heim, aber da wird sie flugs zur Tante wegorganisiert. So ist ja auch Evelyn aufgewachsen. Der Unterschied ist: Ihre Tante Trude hat gewusst, was sie tat. Betti dagegen ist impulsiv, sorglos und pfeift darauf, was die Leute sagen. Ob das einfach ihr Temperament ist oder ob sie eine psychische Störung hat, bleibt offen.
Silvia findet’s bei Tante Betti wesentlich unterhaltsamer als im strengen Elternhaus, doch die Sache geht gründlich schief. Es kommt zu einem weiteren „Vorfall“, den Silvia, 15, nur knapp überlebt und eine ihr nahestehende Person gar nicht.
Mit 16 packt Silvia Borowski ihre Sachen, verschwindet aus dem Internat und schlägt sich in verschiedenen Ländern mit Aushilfsjobs durch. 17 Jahre lang lässt sie nichts mehr von sich hören.
Zurück in den Kleinstadtmief
Berlin 1989: Silvia, inzwischen 33, jobbt sich immer noch durch, lebt in einer Hausbesetzer-WG und hat eine zwei Monate alte Tochter. Der Vater des Kindes ist über alle Berge. Bei der Partnerwahl hat sie noch nie ein glückliches Händchen gehabt! Irgendwann hat sie von allem die Nase voll, klaut einem Freund das Auto und fährt mit Hannah zu ihrer Mutter nach Ildingen.
Evelyn, seit kurzem im Ruhestand, wirkt ähnlich verwahrlost wie ihr Haus und ihr Garten und ist nicht eben begeistert davon, dass die verlorene Tochter nebst Baby unangekündigt bei ihr auf der Matte steht. Silvia zieht mit ihrer Tochter dennoch in ihr altes Kinderzimmer. Zu dem längst fälligen offenen Gespräch zwischen Mutter und Tochter kommt es allerdings nie. Wenn Silvia wichtige Ereignisse aus der Vergangenheit ansprechen will, wechselt ihre Mutter das Thema, geht zum Angriff über oder schaltet den Fernseher ein.
Silvia nimmt Kontakt zu ein paar Leuten auf, die sie noch von früher kennt, aber die können ihre Fragen auch nicht beantworten. Zum Beispiel, warum Tante Betti nicht im Familiengrab beigesetzt wurde. Und wo sie stattdessen begraben liegt. Heimlich kramt Silvia in den Papieren ihrer Mutter und fördert recht verstörende Unterlagen zutage. Irgendwann wird Evelyn reden müssen …!
Familie: lieblos und sprachlos
Hier sind mehrere Generationen in Lieb- und Sprachlosigkeit aufgewachsen. Dazu kommen dann noch die Kriegsjahre, in denen alle möglichen Ungeheuerlichkeiten vorgefallen sind – und schon hat man ein undurchdringliches Dickicht an Familiengeheimnissen, Lügen und Vertuschungen. Wenn es wichtiger ist, was „die Leut‘“ denken als alles, was Menschen fühlen, wünschen oder sich erträumen, dann sind wir mitten im spießigen Kleinstadtmief, und daraus kann nichts Gutes erwachsen.
Ich bin ungefähr in Silvias Alter, kenne diese Art von schwäbischem Kleinstadtkosmos und finde, die Autorin hat die Atmosphäre sehr gut getroffen. Wehe, es war jemand ein bisschen anders als die anderen!
Es muss nicht immer Mord und Totschlag sein. Diese Geschichte bezieht ihre Spannung aus der Frage, wer hier was zu verbergen hat – und warum. Manches, was die Leute da veranstalten, um sich nur ja keine Blöße zu geben, lässt einen fassungslos zurück.
Schaffen Borowskis die Wende?
Ich vermute, dass die Autorin Silvias Rückkehr ins schwäbische Ildingen nicht zufällig ins Jahr 1989 gelegt hat. Vielleicht gibt’s nicht nur in Deutschland eine Wende, sondern auch in der Familie Borowski und es gelingt Silvia und Hannah, diese Kette aus Lieblosigkeit und Schweigen zu brechen. Ich würde es ihnen gönnen!
Die Autorin
Alena Schröder, geboren 1979, arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie hat Geschichte, Politikwissenschaft und Lateinamerikanistik in Berlin und San Diego studiert und die Henri-Nannen-Schule besucht. Nach einigen Jahren in der ›Brigitte‹-Redaktion arbeitet sie heute frei u.a. als ›Brigitte‹-Kolumnistin. Gemeinsam mit Till Raether spricht sie in ihrem Podcast »sexy und bodenständig« über das Schreiben.
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Rezensentin: Edith Nebel
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