Heike Abidi: Wahrheit wird völlig überbewertet – Roman

Heike Abidi: Wahrheit wird völlig überbewertet – Roman, München 2013, Knaur Taschenbuch, ISBN 978-3-426-51209-8, 366 Seiten, Softcover, Format: 18,8 x 12,4 x 3 cm, EUR 8,99 (D), EUR 9, 30 (A).

„Tja, wenn das Leben so verliefe, wie ich es mir erträume, dann wäre ich Friederike Engelbrecht, die glücklich verliebte, erfolgreiche Karrierefrau und Mutter zweier wohlgeratener Wunschkinder. Und ich hätte eine Hammerfigur! Tatsächlich bin ich Friederike Engelbrecht, die einsame, kinderlose Singlefrau mit dem dringenden Verdacht, dass ihr Mindesthaltbarkeitsdatum in Kürze abläuft.“ (Seite 7)

Friederike Engelbrecht, Marketing-Assistentin bei der Feronia-Versicherung, zählt mit Grausen die Tage bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag. Was gibt es denn da zu feiern? Kein Partner in Sicht, die beste Freundin Carla lebt in Australien, und mit der Karriere geht es auch nicht so recht weiter. Ihre „Lebenspartner“ sind derzeit ein ererbter Papagei, der bellt, flucht und Bibelsprüche kloppt und Carlas Kater Gorbatschow. Mit ihrem Aussehen hadert Friederike ebenfalls: Das einzige, was an ihr dünn ist, sind die Haare. Da kann man schon mal in Weltuntergangsstimmung kommen.

Mit ihrer älteren Schwester, der „heiligen Johanna“ kann sie in punkto Glück einfach nicht mithalten. Die ist mit einem zwar langweiligen aber erfolgreichen Mann verheiratet, hat ein Haus und ein Geschwader entzückender Kinder mit klangvollen Doppelnamen.

Ein bisschen was dürfte sich in Friederikes Leben gerne verändern. Doch so viel Trubel, wie ihr jetzt ins Haus steht, hat sie nicht haben wollen! Eine missverständliche Äußerung in einer geschäftlichen Besprechung lässt ihren Chef und die Kollegen annehmen, sie sei schwanger. Erst kapiert sie das gar nicht, dann ist ihr ein öffentlicher Widerspruch peinlich – und ruckzuck ist der Zeitpunkt verpasst, das Missverständnis aufzuklären.

Und warum sollte sie auch? Der cholerische Chef, der gerade selber Vater wird, ist auf einmal sehr nett zu ihr und bietet ihr sogar die Leitung eines neuen Projekts an. Sie bekommt ein Einzelbüro und soll die Marketingstrategie für eine Versicherung erarbeiten, deren Zielgruppe werdende Eltern sind. Wer wäre dafür besser geeignet, als eine Mitarbeiterin, die gerade ein Baby erwartet?

Als Freundin Carla am Telefon von den Entwicklungen erfährt, ist sie entsetzt. Sowas kann man doch nicht machen! Das ist Betrug. Und wenn das herauskommt! Doch Friederikes Lügengeschichte hat schon rasant Fahrt aufgenommen. Es zu spät zum Bremsen und zum Steuern. Zum Umkehren sowieso. Jetzt kann sie nur noch warten, bis es kracht.

Sie besorgt sich Fachliteratur, das Tagebuch ihrer Schwester und künstliche Schwangerschaftsbäuche, wie man sie beim Film benutzt, und führt fortan ein Doppelleben: Den Kollegen gaukelt sie die werdende Mutter vor. Freunde und Verwandte hingegen dürfen von dieser Posse nichts wissen. Ihnen darf sie keinesfalls scheinschwanger begegnen. Da ist jedes Türklingeln und jede Erledigung in der Stadt ein nervenzerfetzendes Ereignis. Wer kommt zu Besuch? Muss sie jetzt schwanger oder nicht schwanger sein? Hat der Mann ihrer Schwester sie mit falschem Bauch im Kaufhaus gesehen? Fragt sich ihr Friseur, wo auf einmal ihr Kind geblieben ist?

Das ist alles nichts im Vergleich zu der Frage, wie Friederike aus dieser Nummer wieder rauskommt. Im September muss sie bei ihrem Arbeitgeber ein Kind vorweisen, oder alles fliegt auf. Der Chef hat ihrem Baby sogar schon einen Platz im betriebseigenen Kindergarten reserviert. Wenn nicht gerade jemand einen Säugling im passenden Alter übrig hat, bekommt Friederike ein ernsthaftes Problem. Doch Not macht erfinderisch. Und Skrupel kann sich Friederike längst nicht mehr leisten.

Carla, die im fernen Australien im Glauben gelassen wird, das Missverständnis sei längst ausgeräumt, organisiert von dort aus eine Überraschungsparty zu Friederikes 40. Geburtstag. Hier nun treffen alle aufeinander: Freunde, Verwandte und Kollegen. Die, die unsere Heldin für eine junge Mutter halten und jene, die von der angeblichen Schwangerschaft nie etwas mitbekommen haben.

Friederike sitzt wie auf glühenden Kohlen. Jetzt ist kann es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Bombe platzt …

Unsere Lese-Erfahrung lehrt uns, dass heitere Frauenromane immer gut ausgehen. Unsere Lebenserfahrung sagt uns dagegen, dass Friederikes Schwindelmarathon zwangsläufig in einer Katastrophe enden muss. Man kann sich als durchschnittlich phantasiebegabter Mensch einfach nicht vorstellen, wie die Frau sich aus diesem Lügengeflecht wieder freistrampeln könnte, ohne komplett das Gesicht zu verlieren und alle ihre Sozialkontakte bis zum jüngsten Tag zu verprellen. Und so liest man wie besessen, weil man unbedingt wissen will, wie es der Autorin gelingt, diese verfahrene Geschichte zu einem glücklichen Ende zu führen.

Natürlich bleibt man auch dabei, weil man mit der sympathischen Friederike Engelbrecht mitleidet, mitlacht und mithofft. Irgendwie schafft sie es nämlich, uns von der ersten Seite an zu Komplizen zu machen. Vielleicht, weil sie direkt mit uns Leserinnen spricht? „Finden Sie nicht auch?“

Sie tut hier zwar etwas Verwerfliches, ist aber eigentlich eine Gute. In die Scheinschwangerschaftsposse ist sie in einem Moment der Schwäche hineingerutscht und findet nun nicht mehr heraus. Mag sie sich die Sache auch manchmal schön reden, im Grunde weiß sie, dass ihre Freundin Carla recht hat: Sie muss diese Farce beenden. Fortgesetzte Unehrlichkeit ist keine Basis für zwischenmenschliche Beziehungen. Aber in einen Schlammassel hinein kommt man immer wesentlich leichter als dort wieder heraus.

Heike Abidi ist ein kluger, warmherziger, humorvoller und spannender Roman gelungen. Ob Wahrheit tatsächlich überbewertet wird, darüber lässt sich streiten. Freundschaft aber kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Das wird uns anhand von Friederikes turbulenter Geschichte wieder einmal bewusst.

Die Autorin
Heike Abidi, Jahrgang 1965, studierte Sprachwissenschaften und arbeitet heute als freiberufliche Werbetexterin und Autorin. Sie lebt mit Mann, Sohn und Hund in der Nähe von Kaiserslautern.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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