Ina May: Kratzat – Allgäu-Krimi, Köln 2016, Emons Verlag, ISBN 978-3-95451-826-5, Softcover, 284 Seiten, Format: 13,6 x 2,7 x 20,3 cm, Buch: EUR 11,90 , Kindle Edition: EUR 8,49.
Ein Fremder kommt in den Ort – das erzeugt in Nesselwang/Allgäu einen Aufruhr wie in einem klassischen Western. Der junge Mann, der aus heiterem Himmel auftaucht und unangenehme Fragen stellt, ist Journalist und Buchautor und plant, einen Roman über einen 34 Jahre zurückliegenden Mordfall zu schreiben. Er glaubt nämlich nicht, dass der damals 21jährige Jörg Heider seine Freundin Renate Täubl getötet hat, ehe er Suizid beging.
Ein Fremder stellt neugierige Fragen
Wer im August 1981 schon alt genug war, um von dem Fall etwas mitzubekommen, dem ist auf den ersten Blick klar, dass der dieser Störenfried aus München nicht irgendwer ist, sondern jemand mit einem ganz persönlichen Motiv. Doch er ahnt nicht, was er lostreten wird, wenn er jetzt in Jahrzehnte alten Geheimnissen herumbohrt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Ersten Bürgermeisterin Evelyn Eberius (52), die damals zur selben Freundesclique gehört hat wie das Opfer und der mutmaßliche Mörder. Evelyns Problem: Sie hatte mit 18 einen schweren Autounfall, lang lange im Koma und hat seither, was ihre Jugendzeit angeht, größere Gedächtnislücken.
Evelyn weiß noch, dass Renate kein Kind von Traurigkeit war. Sie hatte nicht nur was mit Jörg Heider. Ihrer etwas prüden besten Freundin, der Schneiderin Heike Bayerlein, war das immer unangenehm. Evelyn erinnert sich auch noch daran, Jörg Heider bedauert und ziemlich toll gefunden zu haben. Doch was an jenem Sommerabend am Kögelweiher, an dem die Clique immer gefeiert hat, wirklich passiert ist, kann sie nicht sagen. Manchmal fragt sie sich angstvoll, ob sie selbst etwas mit Renates Tod zu tun haben könnte. Und wenn nicht sie, dann vielleicht der heutige Polizeipressesprecher Justus Abeling, der damals, wie so viele, in Renate verknallt war, aber nie bei ihr landen konnte. Auch wenn Abeling nicht unattraktiv ist … er hat sowas „Verdrucktes“ (= schüchtern, verklemmt).
Eine Bürgermeisterin mit Gedächtnislücken
Seit der naseweise Journalist aufgetaucht ist, will Evelyn sich dringender denn je an ihre Vergangenheit erinnern. Sie kramt alte Audio-Kassetten heraus, auf die sie zu Teenagerzeiten die Gespräche ihrer Kumpels aufgenommen hat, doch sie kann nicht einmal mehr die Stimmen ihrer damaligen Freunde identifizieren. Und warum fehlen von den Kassetten welche?
Es ist allgemein bekannt, dass Renate Täubl Tagebuch geführt hat. Hinter dem ist jetzt nicht nur der Journalist her, sondern auch der Polizeipressesprecher Abeling. Auch Evelyn würde zu gerne einen Blick hineinwerfen. Doch das Tagebuch befindet sich merkwürdigerweise im Besitz zweier alter Damen im örtlichen Seniorenheim, die gelegentlich darin lesen, aber kein gesteigertes Interesse daran zu haben scheinen. Dabei hat sich Renate bei ihren Aufzeichnungen keine Zurückhaltung auferlegt. Da wäre manch einem daran gelegen, dass der gepfefferte Inhalt schön unterm Deckel bleibt.
Renates Tagebuch taucht auf
So richtig Leben kommt in die Bude, als der Journalist das Tagebuch in die Finger bekommt und jeden Tag einen Auszug daraus in der Zeitung veröffentlicht. Er will damit den wahren Mörder aus der Reserve locken. Keine gute Idee …
Als Leser will man unbedingt wissen, wer wirklich für die Todesfälle verantwortlich ist und wie die Bürgermeisterin in dem Fall mit drinhängt. Es muss doch einen Grund haben, dass der Journalist ausgerechnet sie in seiner Zeitungskampagne verschont hat! Und triggert vielleicht irgendwas von den aktuellen Vorfällen ihr Erinnerungsvermögen?
Eine tolle Idee waren die Allgäuer Redensarten, die jedem Kapitel vorangestellt sind – im Dialekt und in der schriftdeutschen Übersetzung. Vieles von dem sagt man bei uns (Raum Stuttgart) heute noch, anderes habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört – und es ist immer wieder amüsant zu sehen, wie man im Dialekt mit wenigen Worten zeitlose Wahrheiten auf den Punkt bringen kann.
Gut gehütete Geheimnisse auf dem Dorf?
Fremd war mir dagegen der Umgang der Dörfler mit dem Klatsch. Ich bin selbst ein Landei, ungefähr im Alter der Hauptfiguren und ich kenne das ein bisschen anders. In diesem Krimi hier wissen die Gemeindemitglieder erstaunlich wenig übereinander. Gerade weil auf dem Dorf meist nicht viel passiert, spielt Tratsch doch eine große Rolle! Ereignet sich einmal etwas wirklich Dramatisches, ist das Jahrzehnte lang Thema. Ich hatte immer das Gefühl, dass man bei uns schon mit dem Wissen über örtliche Skandale auf die Welt kommt. Mord, Totschlag, Kuckuckskinder – irgendwer erzählt einem davon, auch wenn man die Beteiligten gar nicht mehr persönlich kennengelernt hat.
Nesselwang ist deutlich kleiner als meine Heimatgemeinde. Aber Justus Abeling weiß nichts über Evelyns Unfall, ihr Koma und den daraus resultierenden Gedächtnisverlust, obwohl sie zum Unfallzeitpunkt befreundet waren und beide nie aus Nesselwang herausgekommen sind? Wie das? Und Stefanie, Evelyns Tochter, hat noch nie von dem Mord an Renate Täubl gehört? Das könnt ihr einer Landpomeranze nicht erzählen! Todsicher hätte sich jemand bemüßigt gefühlt, ihr gegenüber zu erwähnen, dass am Kögelweiher mal jemand umgebracht wurde und ihre Mutter mit Opfer und Täter befreundet war. Im Gedächtnis eines Dörflers sind zu jedem Mitmenschen Hintergrundinformationen hinterlegt wie Formeln in einer Excel-Tabelle – und jederzeit abrufbereit.
Ich kann auch nicht verstehen, dass niemand Johanna erkannt haben will. Sie war doch wirklich nicht aus der Welt! Und was die zwei alten Ladys im Seniorenheim umtreibt, ist mir auch ein Rätsel geblieben. Die haben wirklich eine höchst sonderbare Vorstellung von Loyalität. Warum eigentlich?
Düster und spannend
Es gibt auch sehr stimmige Beziehungen in dem Roman – das Familienleben der Eberius-Sippe, zum Beispiel, die Freund- und Feindschaften im Gemeinderat (köstlich!), Justus Abeling und seine lebenskluge Vermieterin Fanni – und dann wieder (re)agieren Menschen auf eine Weise, die mich verblüfft und ratlos zurücklässt. Das war ein bisschen das Problem, das ich mit diesem Krimi hatte. Düster und spannend ist er, gar keine Frage! Man will die Geheimnisse unbedingt gelüftet haben und kann nicht aufhören zu lesen. Nur empfand ich die Antworten auf manche Fragen eben nicht als befriedigend.
Und ein KRATZAT ist ein Kaiserschmarrn, richtig?
Die Autorin
Ina May wurde in Kempten im Allgäu geboren, verbrachte die ersten sechs Lebensjahre in Nesselwang und einen Teil ihrer Jugend in San Antonio im US-Bundesstaat Texas. Sie absolvierte ein Sprachenstudium und arbeitete als Fremdsprachen- und Handelskorrespondentin für amerikanische Konzerne. Heute lebt die freischaffende Autorin mit ihrer Familie am Chiemsee.
Rezensent: Edith Nebel
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