Carla Berling: Sonntags Tod. Kriminalroman

Carla Berling: Sonntags Tod. Kriminalroman, München 2017, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-41993-3, Klappenbroschur, 269 Seiten, Format: 11,8 x 2,7 x 18,5 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 8,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abbildung: (c) Wilhelm-Heyne-Verlag

„Andy setzte sich wieder aufs Bett und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Seine Stimme klang verzweifelt: ‚In meinem Leben ist kein Stein mehr auf dem anderen. Ich weiß nicht mehr, was und wem ich noch irgendetwas glauben kann.’ – Ira nahm seine Hand. ‚Mir. Mir kannst du trauen“, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.“ (Seite 208)

Bad Oeynhausen in Westfalen: Lokalreporterin Ira Wittekind, Jahrgang 1960, glaubt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nicht an die Mär von der heilen Familie. Sie ist als Tochter einer geschiedenen, allein erziehenden Mutter aufgewachsen, was in einer kleinstädtischen Umgebung in den 1960er und 1970er-Jahren definitiv kein Spaß war.

Iras Schulfreundin, die Polizistentochter Verena Friese, war als Halbwaise nicht besser dran. Erst kümmerte sich eine wenig zugängliche Oma um sie, danach ihre Stiefmutter. Jetzt ist Verena tot, genau wie ihr Ehemann Richard Schäfer. Vergiftet, beide. Erweiterter Suizid, sagt die Polizei. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden.

Erweiterter Suizid der Jugendfreundin


Zur Beerdigung kommt Neu-Single Ira, die lange in Köln gelebt hat und erst vor kurzem nach Bielefeld gezogen ist, wieder an den Ort ihrer Kindheit. Vieles hat sich dort verändert, und manch einem Freund und Bekannten aus ihrer Jugendzeit hat das Leben übel mitgespielt. Ihre einst so hübsche Freundin Verena, die schicke Friseurmeisterin, war in ihrer Ehe mit dem Hotelerben Richard Schäfer sehr unglücklich und sie hatte sich durch ihre Alkoholabhängigkeit äußerlich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Was hat die Eheleute Schäfer in den erweiterten Selbstmord getrieben? Wenn sie es nicht mehr miteinander ausgehalten haben, warum haben sie sich dann nicht einfach scheiden lassen? Ihr gemeinsamer Sohn Patrick ist genauso ratlos wie die (Adoptiv-)Eltern der Schäfers.

Auch Iras frühere Nachbarn, die Familie Weyer, scheint das Unglück gepachtet zu haben:

  • Der Landwirt Karl Weyer, das Familienoberhaupt, ist vor 14 Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Sagen wir’s offen: Er war ein brutaler Mistkerl, dem keiner eine Träne nachweint, aber sowohl seine Frau Elsa als auch sein damals achtjähriger Enkel Julian geben sich die Schuld an seinem Tod und werden damit nicht fertig.
  • Vier Söhne hatten Karl und Elsa. Michel, der Jüngste, ein Nachkömmling und Tunichtgut, ist gleich nach der Beerdigung seines Vaters spurlos verschwunden. Mit Schaustellern durchgebrannt und nie wieder aufgetaucht, heißt es. Aber warum hat er das getan?
  • Markus Weyer, der Zweitälteste, der Vater von Julian, und seine elegante Frau Linda, die überhaupt nicht in diese ländliche Umgebung passen, aber trotzdem auf dem Hof der Familie wohnen, machen keinen besonders glücklichen Eindruck. Der verstorbene Richard Schäfer war seit Kindertagen einer von Markus’ engen Freunden, aber die Trauer um ihn ist nicht sein einziges Problem.
  • Nur der Biobauer Thomas – Sohn Nummer drei – und seine Frau Gundis, die „Ökotrulla“, samt ihrer Kinderschar scheinen mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Thomas war seinem Vater auch immer am ähnlichsten und musste am wenigsten Kritik und Prügel einstecken. Die bekam hauptsächlich sein Bruder Markus ab, der sensible Künstlertyp, der für seinen Vater eine herbe Enttäuschung war.
  • Am nächsten steht Ira Wittekind dem ältesten Sohn der Weyers, dem Koch Andreas.Mit ihm ist sie zur Schule gegangen. Auch „Andy“ hat sein Päckchen zu tragen: Exfrau und Tochter leben seit vielen Jahren im Ausland und er hat kaum Kontakt zu seinem inzwischen erwachsenen Kind.

Wohin verschwand der Nachbarssohn?


Andy und Ira reden von alten Zeiten, fühlen sich zueinander hingezogen und es könnte mehr daraus werden. Noch ein Grund mehr für sie, sich im Dunstkreis ihrer alten Freunde aufzuhalten. Der Hauptgrund ist natürlich ihre professionelle Neugier: Wieso haben sich die Schäfers das Leben genommen? Warum und wohin ist Michel Weyer verschwunden? Hat das etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun? Was ist an jenem Tag wirklich geschehen? Gibt es eine Geschichte hinter der offiziellen Version?

Eine Frage ist verdächtig schnell beantwortet: Die über den Verbleib des verschwundenen Michel Weyer. Er mag in viel herumgekommen sein in seinen jungen Jahren, doch geendet hat er als verwahrloster Toter in einer Messie-Wohnung, in der er unter anderem Namen gelebt hatte – nur wenige Kilometer vom elterlichen Hof entfernt. Kaum zu glauben, dass er in all der Zeit nie einem Verwandten oder Bekannten in die Arme gelaufen sein soll!

Das ist auch nicht der Fall. Anscheinend hat Michel mit Richard und Verena Schäfer in Kontakt gestanden. Seltsam … vor seinem Verschwinden hatten sie nichts miteinander zu tun gehabt. Und auch jetzt ist die Verbindung zwischen dem heruntergekommenen Messie und dem deutlich älteren, gut situierten Hoteliers-Ehepaar mehr als rätselhaft. Was hat die drei nur verbunden?

Ein Trauma mit schrecklichen Folgen


Was Ira bei ihren Recherchen zutage fördert, entpuppt sich als furchtbare Tragödie. Die vielen Schicksalsschläge, die Schäfers und Weyers heimsuchen, haben nichts mit schnödem Pech zu tun – sie hängen auf komplexe Weise zusammen. Und wenn man genau hinschaut, nimmt alles schon vor Jahrzehnten seinen Anfang, mit einem unverarbeiteten Trauma, dessen Folgen ein halbes Dutzend Menschen aus drei Generationen ins Unglück stürzen.

Für ein bisschen humorvolle Auflockerung in dieser düsteren Geschichte sorgen Andys gastfreundliche und trinkfeste Tanten Frieda und Sophie, beide über 80. Die sind seit Jahrzehnten fest in der Gemeinde verwurzelt und kennen eine Menge alter Geschichten. Ihr Wissen hilft Ira enorm weiter. (Die Königspudeldame der Journalistin hat dagegen bis jetzt noch keinerlei Spürhundqualitäten gezeigt.) Die Geschichten der beiden alten Damen böten mit Sicherheit auch Stoff für einen eigenen Roman, doch das lassen sie nur zwischen den Zeilen anklingen. Manche Erinnerungen hält man lieber unter dem Deckel.

Das ist wieder einer der Krimis, über die man alles um sich herum vergisst, das Essen anbrennen und den Kaffee kalt werden lässt, weil man unbedingt wissen will, wie die tragischen Einzelschicksale miteinander verbunden sind. Alle beteiligten Personen schweigen, schwindeln und vertuschen, keiner redet Klartext und so weiß man bis zum Schluss nicht, was tatsächlich vorgefallen ist. Aber auf eines ist Verlass: Wenn Ira Wittekind an einer Sache dran ist, geht sie ihr auch auf den Grund. Sie muss ja nicht alles, was sie herausfindet, auch in die Zeitung bringen.

Band 1 der Ira-Wittekind-Reihe


Zeitlich spielt SONNTAGS TOD vor dem bereits im April 2017 bei Heyne erschienen Band MORDKAPELLE und ist der Auftakt der Ira-Wittekind-Reihe. Dass Heyne die Bände in dieser Reihenfolge veröffentlicht, hat seine Gründe, war aber vielleicht nicht die weltbeste Idee. Ich würde jedem Neueinsteiger raten, mit dem vorliegenden Band, SONNTAGS TOD, zu beginnen. Hier lernt man Iras Vorgeschichte und Umfeld – vor allem die große Familie Weyer – in aller Ruhe kennen. Steigt man mit einem späteren Band ein, ist man von der Fülle des Romanpersonals überwältigt und hat ständig das Gefühl, dass einem wichtige Vorkenntnisse fehlen. Wer am Anfang anfängt, hat’s echt leichter.

Die Autorin
Carla Berling, Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie 2013 auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. MORDKAPELLE war ihr erster Wittekind-Roman bei Heyne, es folgte SONNTAGS TOD. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem regelmäßig mit ihrer Comedyreihe Jesses Maria durch große und kleine Städte.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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