Matt Haig: Wie man die Zeit anhält. Roman, OT: How To Stop Time, aus dem Englischen von Sophie Zeitz, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28167-6, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 379 Seiten, Format: 14,1 x 3,8 x 21,6 cm, Buch: EUR 20,00, Kindle Edition: EUR 15,99. Auch als Hörbuch lieferbar.
„Mir kam der Gedanke, dass die Menschen deswegen nicht älter als hundert wurden, weil sie es einfach nicht aushielten. Seelisch, meine ich. (…) Die eigenen Gedanken liefen sich tot. Das Leben, das sich stets wiederholte, wurde öde. (…) Alles drehte sich im Kreis. In einer langsamen Abwärtsspirale.“ (Seite 43)
Was Progerie ist, wissen wir: eine Erkrankung, die kleine Kinder fünf- bis zehnmal schneller altern lässt als gesunde Menschen. Der Held in diesem Roman leidet an Anagerie: Er altert ab der Pubertät rund fünfzehnmal langsamer als andere.
Tom ist zu lange jung
Als Estienne Thomas Christophe Hazard am 3. März 1581 als Sohn eines Grafen in einem kleinen französischen Chateau geboren wird, kennt man jedoch weder das Phänomen noch den Namen dafür. Die Symptome werden erst offenbar, als er nach dem Tod seines Vaters und der Flucht vor den Katholiken mit seiner Mutter in Suffolk lebt. 1599, mit 18, sieht er immer noch aus wie ein Dreizehnjähriger, und als es in seinem Dorf zu einem unerklärlichen Todesfall kommt, ruft das die Hexenjäger auf den Plan.
Die Mutter überlebt diese Begegnung nicht. Tom Hazard, wie er sich jetzt nennt, schnappt sich ihre Laute – einst ein Geschenk des Grafen von Rochefort und das einzige von Wert in diesem Haushalt – und versucht, sich zu Fuß nach London durchzuschlagen. Er kommt bis Bow, wo er auf dem Marktplatz einen Schwächeanfall erleidet und im Fallen die Ware und den Korb der 18-jährigen Obstverkäuferin Rose Claybrook ruiniert. Die praktisch veranlagte Rose, die seit dem Tod ihrer Eltern allein für sich und ihre jüngere Schwester Grace sorgt, schlägt Tom vor, mit ihnen nach Hause zu kommen, das Zimmer ihres verstorbenen Bruders zu beziehen und seine Schulden für Obst, Korb und Logis abzuarbeiten. Sie wundert sich zwar, dass er mit – wie er sagt – 16 aussieht wie 13 und spricht wie ein Erwachsener, aber was weiß sie als einfache Frau vom Land schon vom Leben?
Trennung um Frau und Kind zu schützen
Tom und Rose verlieben sich, heiraten und bekommen eine Tochter, die intelligente und etwas grüblerische Marion. Doch egal, wie oft sie ihre Zelte abbrechen und wohin sie flüchten: Rose altert in normalem Tempo. Tom und Marion dagegen nicht. Irgendwann wird Tom klar, dass er seine Familie verlassen muss, wenn er sie vor der Aberglauben, Verfolgung und dem sicheren Tod durch die Hexenjäger schützen will.
1617 trennen sich ihre Wege. Er sieht Rose bis zu ihrem Tod 1623 nicht wieder. Tochter Marion, die aufgrund der Anagerie auch fortwährend zu Flucht und Neubeginn verurteilt ist, sucht er noch heute – in der Gegenwart.
Jetzt, viele Namen, Legenden, Länder und Berufe später, ist Tom Hazard 439 Jahre alt und sieht aus wie Anfang 40. Er hat seinen alten Namen wieder angenommen und unterrichtet Geschichte an der Oakfield School in Londons Stadtbezirk Tower Hamlets. Dass er vor Jahrhunderten seine Familie im Stich lassen musste, hat er nie verwunden.
Seit er als Seemann 1766 dem Tahitianer Omai begegnet ist, weiß er, dass es außer Marion und ihm noch mehr Menschen gibt, die im Zeitlupentempo altern. Und weil er 1891 Dr. Jonathan Hutchinson aufsucht, einen Arzt, der die Progerie erforscht, erfährt „die Gesellschaft“ von seiner Existenz. Hutchinson hat nämlich einen Fachartikel über Tom und seine Erkrankung geschrieben.
Albatros – die Gesellschaft der Langlebigen
Mit der Gesellschaft ist nicht die Menschheit an sich gemeint, sondern eine Organisation namens „Albatros“, die Hendrich Pieterson gegründet hat, ein „sehr alter, sehr weiser Mann, geboren in Flandern, lebt in Amerika, seit es Amerika heißt“. (Seite 104)
Diese Gesellschaft, benannt nach dem langlebigen Vogel, spürt Anagerie-Patienten auf der ganzen Welt auf, zwingt sie zum Beitritt und unterstützt sie dabei, alle 8 Jahre eine neue Identität anzunehmen. Dass es diese Erkrankung gibt, soll unter allen Umständen geheim bleiben. Hexenverbrennungen haben die „Albas“ zwar nicht mehr zu befürchten, wohl aber besteht die Gefahr, in die Mühlen der Forschung zu geraten. Um nicht entdeckt zu werden, sollen sie möglichst unter sich oder für sich bleiben und unter gar keinen Umständen Beziehungen zu „Eintagsfliegen“ eingehen. So nennt Hendrich die Normalsterblichen.
1891 war Tom noch beindruckt von Hendrich, New York und der Gesellschaft. Heute hat er es satt, alle paar Jahre Neue rekrutieren zu müssen. Denn wenn sie nicht beitreten wollen, muss er sie aus Sicherheitsgründen töten. Und Tom tötet nicht gern. Nie mehr lieben zu dürfen hält er, seit er seine Kollegin, die Französischlehrerin Camille Guerin, näher kennt, auch für eine ausgesprochen bescheuerte Idee.
Tom hat die Gesellschaft satt
Am liebsten würde er austreten aus der Gesellschaft – oder seinem Leben gleich ein Ende setzen. Ständige Kopfschmerzen, unkontrollierbare Flashbacks und die Gewissheit, dass die Menschheit niemals aus ihren Fehlern lernen wird, können einem jeden Lebensmut nehmen.
„Unser Feind ist die Ignoranz“, sagt eine der Albas einmal zu Tom. „Die Ignoranz geht mit der Zeit, Aber sie ist immer da, und sie bleibt immer tödlich.“ (Seite 105/106) Diese Erfahrung jahrhundertelang immer und immer wieder machen zu müssen, ist zweifellos frustrierend.
Was Tom am Leben hält, ist die Hoffnung, eines Tages seine Tochter Marion wiederzusehen. Eine Hoffnung, die Hendrich kräftig schürt. Er sucht nach ihr, sagt er, und hält Tom so bei der Stange. Dieser wird erst rebellisch, als er einen alten Freund rekrutieren (alternativ: töten) soll. Tom weiß genau: Dieser Mann wird der Gesellschaft niemals beitreten! Schließlich kennt er ihn schon seit rund 250 Jahren.
Späte Rebellion
Tom Hazard ist derart mit den Dämonen seiner Vergangenheit, dem Geheimhalten und der Suche nach seiner Tochter beschäftigt, dass er die Motive der Albatros-Gesellschaft erst sehr spät hinterfragt. Was in gewisser Weise nachvollziehbar ist: Sie haben ihm geholfen, als er allein war und nicht mehr weiter wusste, und sie waren jahrhundertlang eine Selbstverständlichkeit für ihn. Da ist es nicht so einfach, mal ein paar Schritte zurückzutreten und sich zu fragen: „Moment! Wer will hier was von mir und aus welchem Grund? Ist das in Ordnung? Will ich das auch?“
Ein bisschen naiv und unkritisch lässt ihn das aber schon aussehen. Und die Action am Schluss kommt dann etwas plötzlich. Trotz dieser kleinen Schwächen ist die Geschichte fesselnd und berührend. Und man behält jederzeit die Orientierung, auch wenn Tom in seinen Flashbacks und Erinnerungen munter durch die Jahrhunderte springt.
Die Probleme, die Tom als quasi Unsterblicher hat, sind dem fleißigen Medienkonsumenten nicht neu. Das mit der Liebe, der Geheimniskrämerei und der Einsamkeit ging schon dem HIGHLANDER so und dem Rechtsmediziner Dr. Henry Morgan in der TV-Serie FOREVER. Auch Glaeken aus F. Paul Wilsons Romanreihe WIDERSACHER-Zyklus/ADVERSARY-Cycle hadert damit. Nur haben Film- und Fernsehhelden selten die Muße, ihre besondere Situation philosophisch zu beleuchten. Und Romanheld Glaeken muss die Welt retten, der hat keine Zeit für sowas.
Marion liest und zitiert schon in jungen Jahren die Werke des skeptischen Philosophen Michel de Montaigne. Tom macht sich nicht nur von Berufs wegen schlaue Gedanken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man findet hier so vieles, was man sich am liebsten „für immer“ merken würde! Auch wenn „immer“ bei uns Eintagsfliegen keine besonders eindrucksvolle Zeitspanne ist.
Der Autor
Matt Haig wurde 1975 in Sheffield geboren und hat bereits eine Reihe von Romanen und Kinderbüchern veröffentlicht, die mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet und in über 30 Sprachen übersetzt wurden. In Deutschland bekannt wurde er mit dem Bestseller ›Ich und die Menschen‹.
Rezensent: Edith Nebel
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