Andreas Tjernshaugen: Von Walen und Menschen. Eine Reise durch die Jahrhunderte

Andreas Tjernshaugen: Von Walen und Menschen. Eine Reise durch die Jahrhunderte, OT: Hvaleventyret, aus dem Norwegischen von Martin Bayer, Salzburg/Wien 2019, Residenz-Verlag, ISBN 978-3-7017-3491-7, Hardcover, 253 Seiten, mit Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, Format: 14,2 x 2,5 x 22,6 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 15,99.

Abb. (c) Residenz Verlag

„Für das 19. Jahrhundert gibt es keine verwertbaren Statistiken über die Bejagung der einzelnen Arten, aber man weiß, dass ab 1900 weltweit insgesamt 379.185 Blauwale erlegt und verwertet worden sind, eingerechnet die illegalen Abschüsse durch die Sowjets. Die große Mehrzahl waren antarktische Blauwale. Die Fangzahlen im Norden waren vergleichsweise bescheiden: Während des 20. Jahrhunderts wurden im Nordatlantik und Nordpazifik nur rund 15.000 Blauwale erlegt.“ (Seite 213)

Der Mensch ist schon ein mörderisches Biest! Für den schwedischen Fischer aus dem ersten Kapitel, der im Jahr 1865 einen gestrandeten jungen Blauwal findet, hat man noch ein gewisses Verständnis. Er hat eine Gelegenheit genutzt, die die Natur ihm geboten hat. Das Tier wäre so und so verendet. Eine grausame Schlächterei war’s trotzdem. 30 Stunden hat es gebraucht, bis er den Wal endlich zu Tode gebracht hat.

Okay, in der Steinzeit, als die Norweger schon Walfang betrieben, war das noch ein Kampf einzelner Menschen gegen die Naturgewalt. Das galt sicher auch für die Basken, die im Mittelalter entlang der Biskayaküste in Ruderbooten Bartenwale jagten. Das geschah sozusagen „für den Eigenbedarf“ eines Stammes oder einer Wohnsiedlung. Die werden von ihrer Beute auch nichts verschwendet haben.

Jagd im industriellen Maßstab

Als das Jagen dann allerdings industrielle Ausmaße annahm und der Mensch mehr Tiere tötete als er verwerten konnte, nur um die Fangmethoden oder den Profit zu optimieren, dann wird’s aus heutiger Sicht schon ein bisschen abartig. Da wurde erlegt, was den Menschen unter die Augen kam: Jungtiere, ausgewachsene Tiere, trächtige Tiere, Muttertiere, die Junge dabei hatten, die ohne sie nicht überlebensfähig waren … Das war einfach egal.

Die Walfänger waren eben Kinder ihrer Zeit. Der Tierschutzgedanke war, als es mit dem Walfang in großem Stil losging, noch nicht auf der Welt. Da teilte man die Tiere in „nützlich“ und „schädlich“ ein. Die nützlichen, dachte man, habe „Gott zu Nutz und Frommen der Menschen geschaffen“. Also wurden sie gejagt. Dass Tiere denkende und fühlende Wesen sind, hatte man damals noch nicht auf dem Schirm. Diesbezüglich hat der Homo sapiens ja heute noch einen gewissen Nachholbedarf.

Dass man ganze Arten durch zu intensive Bejagung ausrotten könnte, auf die Idee ist lange niemand gekommen. Seit Menschengedenken sind immer genügend Beutetiere vorhanden gewesen. Und vor allem, wenn man davon ausging, dass Gott für diesen Zustand sorgt, gab es keinen Grund, anzunehmen, dass sich das jemals ändern könnte. In Umweltfragen lernt der Mensch sehr, sehr langsam dazu,

Wir Leser*innen sehen hier mit gewissem Grausen, wie die Jagdmethoden stetig perfektioniert werden und die Fangquoten steigen. Und weil wir die historischen Entwicklungen aus heutiger Sicht betrachten, denken wir: Die müssten doch wissen, was sie tun! Und sollte man nicht mehr Respekt vor diesen gigantischen Tieren haben, statt sie massenhaft abzuschlachten?

Verwandt mit Hirschen, Kühen und Schweinen

Das ist doch eigentlich irre: Da schwimmen 27 Meter lange Anverwandte unserer Hirsche, Kühe und Schweine in den Weltmeeren herum, ernähren sich von winzigen Krebstierchen, kommunizieren mittels Gesang und tragen die Nase verkehrt herum auf dem Oberkopf – und unsere Art hat nichts Besseres zu tun, als ihnen mit schnellen Booten, Sprenggranaten und Harpunenkanonen den Garaus zu machen, ihr Fleisch zu essen und aus ihrem Tran Brennstoff, Seife und Margarine herzustellen. Aber im Rückblick kann man immer leicht moralisch sein …

Den biologischen Teil in dem Buch fand ich spannender als den historischen über die Geschichte des Walfangs. Da hatte ich nämlich das Gefühl, 20 Mal dasselbe Kapitel zu lesen, nur mit anderen Namen und Jahreszahlen. Mal finden die Ereignisse auf der nördlichen, mal auf der südlichen Halbkugel unserer Welt statt, aber der „Plot“ ist, genau wie bei Katastrophenfilmen, immer der gleiche:

Ein Plot wie im Katastrophenfilm

Wissenschaftler warnen vor der drohenden Ausrottung der Wale und verlangen sofortige Schutzmaßnahmen. Alle, die vom Walfang wirtschaftlich profitieren, leugnen und verweigern das. Es wird gestritten, verleumdet und intrigiert, beschönigt und gelogen, gemauschelt, geschmiert und verhandelt. Allenfalls auf Kompromisse will man sich einlassen, auf Fangquoten, die – falls es wirklich stimmen sollte, dass die Wale weniger werden –, es auch noch in Zukunft ermöglichen würde, Walfang zu betreiben. Lobbyisten treten auf den Plan und schließlich wird ein Abkommen ausgehandelt. Doch schneller, als man gucken kann, wird es wieder unterlaufen und gebrochen. Das erinnert ein bisschen an den aktuellen Umgang mit dem Klimawandel.

Das wiederholt sich ständig, und die ganze Welt spielt mit: Europäer, Russen, Japaner, Amerikaner … Krisen und Kriege kommen dem Walfang und dem Walschutz in die Quere. Und als die Tiere im Norden immer rarer werden, zieht der Walfangzirkus weiter in Richtung Antarktis.

Vom Nutz- zum Schutzgedanken

Erst in den 1960er Jahren setzt sich der Schutzgedanke durch und der Walfang hört auf. Gut, die Japaner tun nicht so richtig mit, aber die werden die Restbestände hoffentlich nicht im Alleingang vollends ausrotten. „Gute Vorarbeit“ hat die Menschheit ja geleistet. Der Bestand der nördlichen Blauwale hat sich inzwischen einigermaßen erholt, Doch „Den dramatischsten Zusammenbruch erlebte der Blauwalbestand im Südpolarmeer, wo er am größten war. Als der Walfang dort endete, gab es vielleicht noch 350 Exemplare der großen antarktischen Unterart des Blauwals (…). Es könnten auch bloß noch 150 gewesen sein (…), auf jeden Fall aber kaum noch wenige Promille der ursprünglichen Anzahl, die es hier gab, als Carl Anton Larsen in Grytviken [zu Beginn der 1880er Jahre mit dem Walfang] anfing.“ (Seite 217)

Auch wenn sich die Lage sich mittlerweile ein bisschen entspannt hat, gilt der antarktische Blauwal noch immer als vom Aussterben bedroht. „Im weiten Polarmeer, wo die Pioniere seinerzeit verblüfft über die Menge an Blauwalen waren, ist diese Art heute ein seltener Anblick.“ (Seite 218)

Es war überaus interessant zu sehen wie sich die Einstellung der Menschen zu den Walen im Lauf der Jahrhunderte verändert hat. Lange hat’s gedauert, bis man vom Nutz- auf den Schutzgedanken gekommen ist.

Ein bisschen dröge …

Wie uns diese Entwicklung erzählt wird, ist leider verhältnismäßig trocken – auch wenn sich das meist im und am Wasser abspielt. Dass der Autor penibel recherchiert hat, kann man aufgrund seiner Arbeit für DAS GROSSE NORWEGISCHE LEXIKON voraussetzen. Man sieht’s auch anhand der üppigen Quellenangaben im Anhang des Buchs. Aber, wie gesagt: Es ist aufschlussreich, es ist ausführlich, es ist bestimmt alles korrekt – aber egal, was auf dem Klappentext versprochen wird: Spannend ist es nicht.

Der Autor

Andreas Tjernshaugen,geboren 1972 in Nesodden, studierte Soziologie und arbeitet in Teilzeit für DAS GROSSE NORWEGISCHE LEXIKON. Den Rest seiner Zeit verbringt er damit, Bücher zu schreiben. Sein Vogelbuch DAS VERBORGENE LEBEN DER MEISEN wurde von  Kritikern in Deutschland hochgelobt und war wochenlang auf den Spiegel-Bestsellerlisten.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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