Hanna-Laura Noack: Frau mit Artischocke. Roman

Hanna-Laura Noack: Frau mit Artischocke. Roman, Norderstedt 2019, BoD, Books on Demand, ISBN 978-3-74949718-8, Softcover, 396 Seiten, Format: 12,7 x 2,3 x 20,3 cm, Buch: EUR 14,99, Kindle: EUR 4,99.

Abb. (c) BoD / H.-L. Noack


„Als ich [das Bild] zum ersten Mal sah, traf es mich wie ein Blitz. Es war, als blickte ich auf eine Zeitspanne meines Lebens zurück, in der ich in etwa so alt war wie du jetzt. Es sagte mir etwas Wichtiges, als blicke ich in einen Spiegel meiner Seele. Dieser Blick auf das Bild hat mir geholfen.“ (Seite 167)

Wenn man eine so toxische Verwandtschaft hat wie die Apothekerin Antje Wieden (35), verrammelt man am besten sämtliche Türen, blockiert die Telefonnummern der Angehörigen und wechselt fluchtartig die Straßenseite, falls man doch mal versehentlich einen von ihnen trifft.

Toxische Verwandtschaft

Ankes Mutter Tonia, Mitte 50, weiß haargenau, was die Sippe ihres Ex für ein egozentrischer, missgünstiger und manipulativer Haufen ist. Aus gutem Grund hat sie damals nicht den Erzeuger ihrer Tochter geheiratet, sondern einen biederen, deutlich älteren Freund der Familie. Das ist zwar nie die große Leidenschaft geworden, aber Hubertus Steiner war ein verlässlicher Partner und ein prima Ersatzvater für Anke. Dass nicht er, sondern Dr. Hilmar Worms ihr biologischer Vater ist, erfährt Anke erst sehr spät. Tonia wollte das so. Hilmar sollte in ihrem Leben keine Rolle spielen.

Doch Ankes Familie väterlicherseits ist wie die Ameisen: Auch wenn man alles hermetisch abriegelt, finden sie immer wieder einen Weg ins Haus. Mit 14 freundet sich Anke mit der gleichaltrigen Birgit Worms an, ohne zu ahnen, dass das ihre Halbschwester ist. Es ist mir ein Rätsel, wie Tonia diese Freundschaft zulassen konnte. Sie muss gewusst haben, wer Birgit war! Nach all der Mühe, die sie sich gegeben hat, Anke von ihrem Erzeuger – und vor Kerlen wie ihm – fernzuhalten, unterstützt sie jetzt, dass ihre Teenie-Tochter in seinem Haushalt ein und ausgeht? Eigentlich unfassbar!

Jugendliche Schwärmerei

Das geht aber auch nicht lange gut. Irgendwann bricht Anke aus nachvollziehbaren Gründen den Kontakt zur Familie Worms ab. Nur ihrem Patenkind Julian, Birgits Sohn, schickt sie stets Geschenke, auch wenn er nie darauf reagiert. Mit 14 begegnet er seiner Tante bei einem peinlichen Verwandtenbesuch zum ersten Mal und stellt erfreut fest, dass sie nicht nur nett und großzügig ist, sondern dass sie auch noch aussieht wie Angelina Jolie. Warum eigentlich lassen seine Eltern kein gutes Haar an ihr?

Eine jugendliche Schwärmerei nimmt ihren Lauf.

Julians Eltern haben Eheprobleme und streiten weit unter ihrem Niveau. Ihren hochbegabten Sohn verstehen sie nicht. Julian ist Klassenbester, träumt von einer Zukunft als Nuklearphysiker und hat Albert Einstein zu seinem Idol erkoren. Liebe und Halt findet er daheim nicht, das sucht er anderswo.

Er ist 16, als er seine Patentante aufgrund eines Artikels in der Tageszeitung kontaktiert. Vielleicht erzählt sie ihm ja, warum seine Eltern sie so sehr hassen und wieso sie dann seine Patin ist. Zuhause bekommt er keine Antworten. Deswegen – und weil Anke so verflixt attraktiv ist– sucht er sie auf. Sie heißt ihn überrascht willkommen, ist aber bezüglich der Vergangenheit nicht auskunftsfreudiger als seine Eltern. Sie will ihm nicht einmal verraten, warum sie sich für den Zeitungsartikel ausgerechnet vor dem Picasso-Gemälde „Frau mit Artischocke“ hat fotografieren lassen. Das ist ihr zu persönlich.

Julian zieht alle Register

Antworten oder nicht – nach diesem Besuch kennt Julian nur noch ein Ziel. Er will seine schöne Patentante ins Bett kriegen, koste es, was es wolle. Dafür zieht er sämtliche Register: naiv, romantisch, verzweifelt, kackdreist – irgendwas muss ja mal funktionieren!

Es dauert ewig, bis Anke kapiert, was der Bursche von ihr will. Sie nimmt ihn nicht ernst, für sie ist er ein Kind. Und die Schwierigkeiten, die er in Schule und Elternhaus hat, erscheinen ihr albern im Vergleich zu dem was ihr Auszubildender Adib Arjouni durchgemacht hat – und immer noch durchmacht. Er ist aus Syrien geflüchtet, hat unterwegs furchtbare Dinge erlebt und hat jetzt bei ihrer gemeinsamen Chefin Monika Mardorf einen schweren Stand. Monika traut ihm nicht und will ihn schnellstmöglich wieder loswerden. Das sind in Ankes Augen existenzielle Probleme – nicht die unerfüllten Ansprüche des erfolgsverwöhnten Kronprinzen ihrer Halbschwester. Der „Kronprinz“ leidet natürlich trotzdem. Probleme sind relativ.

Während die Chefin den syrischen Azubi nach Kräften schikaniert, kümmert sich Anke, die auch in der Flüchtlingshilfe engagiert ist, um den jungen Mann.

Das alles bietet reichlich Zündstoff.

Anke hat die Nase voll

Irgendwann kracht’s. Es fliegen nicht mehr nur Beleidigungen …. Und nun ist selbst für die geduldige Anke Schluss mit lustig. Sie nimmt sich ein Beispiel an der „Frau mit Artischocke“, die für sie ein Sinnbild der Wehrhaftigkeit ist, und räumt in ihrem Leben auf. Nun sollen sich mal alle schön um ihren eigenen Kram kümmern und damit aufhören, Schuldgefühle, Probleme und Verantwortung bei ihr abzuladen! Ihr Umfeld ist von dieser Veränderung, gelinde gesagt, überrascht …

Wenn man als Leser*in freiwillig Zeit mit der garstigen Verwandtschaft anderer Leute verbringt, muss das schon ein sehr interessanter Roman sein. Bisweilen ist er verstörend – der Raubüberfall, zum Beispiel, oder Ankes Jugenderinnerungen. Auch die Familienstreitigkeiten bei Julian daheim sind ziemlich beängstigend. Aber spannend!

Außer Anke, Adib und Kollege Felix sind eigentlich alle Personen unsympathisch und gestört. Aber man will unbedingt wissen, wie weit Ankes Sippe mit ihrer Dreistigkeit kommt, warum sie einander so spinnefeind sind und wieso, um Himmels Willen, nicht jeder seiner Wege zieht und die Menschen hinter sich lässt, die er nicht ausstehen kann. Aber das ist bei Verletzungen, die bis in die Kindheit zurückreichen, wohl nicht so einfach.

Noch nicht zufrieden mit dem Status quo

Ich hatte noch nie besonders viel Geduld mit der Nabelschau von Teenagern. Mit dem Gejammer ewig Zukurzgekommener wie Julians Mutter geht es mir ähnlich. Umso mehr bewundere ich den Langmut der Apothekerin Anke. Ich glaub‘, an ihrer Stelle hätte ich die ganze Bagage längst vergiftet! Oder ihnen zumindest ohne Spielraum für Interpretationen gesagt, dass sie sich zum Teufel scheren sollen. Doch dafür ist Antje zu lieb und zu reflektiert. Und ihre Sprache ist für ein herzhaftes „Hörmal“-Gespräch einfach zu literarisch.

Kommt da eigentlich noch was? Das Nachwort deutet eine Fortsetzung an. Und, ehrlich gesagt, ist vielleicht Anke mit dem Status quo zufrieden. Ich als Leserin bin mit den Fieslingen, die ihr das Leben zur Hölle gemacht haben, noch lange nicht fertig!

PS: Schockiert war ich über die Darstellung von Ankes Mutter als gebrechlicher, alter Frau – mit Mitte 50, wenn man nach den Altersangaben im Roman geht. Also, da sind die Mädels in meinem Umfeld deutlich besser in Schuss! Auch die, die das Leben ein bisschen heftiger gerupft hat.

Die Autorin

Hanna-Laura Noack ist in der Welt viel herumgekommen und spricht vier Sprachen. Nach einer Hotelfachlehre studierte sie in Paris, Berlin und Bonn. Im Ausland war sie nacheinander an einer britischen, pakistanischen und iranischen Botschaft tätig, als Privatsekretärin und Dolmetscherin von zwei Botschaftern. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie viele Jahre als Psychotherapeutin in Köln. Parallel zu ihrem Beruf, leitete sie ein Berufsverbandsfachteam für Diplom-Psychologen, führte von ihr entwickelte Trainingsseminare durch und trat vielfach als Expertin in Funk und Fernsehen auf. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Köln und in der Bretagne.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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