Anja Rützel: Lieber allein als gar keine Freunde

Anja Rützel: Lieber allein als gar keine Freunde, Frankfurt 2018, Fischer Taschenbuch, ISBN 978-3-596-29777-1, Softcover, 270 Seiten, Format: 12,7 x 2,3 x 19,5 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 19,30 (A), Kindle: EUR 8,99.

Abb. (c) Fischer Taschenbuch

„In ihren Postings sehe ich Menschen wie Insekten unter einem Vergrößerungsglas, und das macht es mir in der Konsequenz unmöglich, meinen Einsamkeitskokon zu knacken und einfach wieder bei ihnen mitzumachen, weil sie mir schon überdeutlich zeigen, was mich an ihnen nerven wird, bevor ich sie kenne.“ (Seite 170)

Im Grunde ist der Mensch ein soziales Wesen. Er braucht die anderen zum (Über)Leben. Aber, wie wir wissen, gibt’s da Abstufungen. Die Extrovertierten gewinnen Energie aus dem Zusammensein mit Artgenossen. Für die Introvertierten sind solche Kontakte anstrengend, vor allem, wenn sie es mit vielen Menschen auf einmal zu tun haben. Und sie müssen sich hinterher erst einmal davon erholen.

Warum gilt Alleinsein als Mangel?

Zwischen diesen beiden Extremen gibt es dann noch zahllose Abstufungen, und die sollten eigentlich alle gleichermaßen akzeptiert sein. Warum also lässt man Menschen, die freiwillig und gerne allein sind auch allein leben, nicht einfach in Ruhe genau das tun? Warum behandelt man ihre Lebensweise als Mangel, dem es abzuhelfen gilt? Nur, weil sich viele Menschen das Alleinsein als etwas ganz Schreckliches vorstellen, heißt das nicht automatisch, dass alle anderen das genauso sehen.

Wenn der „Einzelerwachsene“ mit seinem Leben zufrieden ist, ist alles fein. Sollte er das Alleinsein doch irgendwann leid sein, ist es ihm dann möglich, sein Sozialleben einfach wieder aufzunehmen? Und kann er, wenn es ganz zum Erliegen gekommen sein sollte, sich ein komplett neues aufbauen? – Solcherlei Gedanken macht sich die Journalistin Anja Rützel aus gegebenem Anlass. Nachdem sie ihren Job gekündigt hat, arbeitet sie als Freelancerin von zuhause aus. Sie hat einen Hund und einen guten Freund, der ihr „hervorragender Komplize gegen die Welt“ ist (Seite 13). Dass ihre übrigen Sozialkontakte immer weniger werden, fällt ihr zunächst gar nicht auf. Sie fehlen ihr nicht. Sie war schon als Kind gern allein und empfindet viele Menschen als uninteressant und anstrengend.

Jeder will frei sein aber keiner allein

Dann sterben kurz hintereinander ihr Hund und ihr guter Freund – und sie beginnt über Einsamkeit zu recherchieren: „Woher kommt sie, warum bleibt sie? Und braucht sie vielleicht gar keinen Minister, der sie bekämpft, sondern einfach einen Imageberater?“ (Seite 29)  Zwar will sich jeder frei fühlen und selbst verwirklichen, aber allein sein will offenbar keiner. Und wenn’s dann welche freiwillig und mit Genuss sind, sind diese der Mehrheit schnell unheimlich.

Philosophen verstehen die Kunst des Alleinseins, Künstler auch. Und natürlich Heilige, aber die sind ja praktisch ausgestorben. Ob die Sache mit den Zier- beziehungsweise Schmuckeremiten wirklich auf tiefem Verständnis beruhte oder nur ein überaus kurioser Spleen des englischen Adels im 18. Jahrhundert war, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen.

Taugen eigentlich Sportvereine und Volkshochschulkurse zum Wiederandocken ans gesellschaftliche Leben, wenn man dies denn möchte? Anja Rützels Selbstversuche lesen sich brüllkomisch, sind aber nicht sehr ermutigend. Aus einem freiwillig Alleinsamen wird eben nicht über Nacht ein geselliger Herdenmensch.

Die Vorzüge des Alleinlebens

Ratgeberbücher sind auch keine Hilfe. Aber es ist ein Vergnügen zu lesen, wie die Autorin darüber ablästert. Immer steht die Frage im Raum, wieso man den Zustand der Alleinsamkeit überhaupt ändern sollte, wo er doch auch viele Vorteile hat: Niemand stört mit fremden Ansichten, keiner bohrt in alten seelischen Wunden und weil niemand da ist, den etwas stören könnte, besteht auch keine Notwendigkeit, sich zu ändern.  

Ein ganzes Kapitel ist den Vorzügen des Alleinreisens gewidmet, Und so, wie Anja Rützel es schildert, klingt es wirklich sehr erstrebenswert.

Wie sieht’s eigentlich aus mit dem Internet? Ist das ein adäquater Ersatz für reale Kontakte? In den Sozialen Medien kann man ja immerhin sein Bedürfnis stillen, von anderen gesehen zu werden und quasi bestätigt zu bekommen, dass man existiert. Aber vielleicht erfährt man dort auch mehr über seine Mitmenschen, als man jemals hat wissen wollen?

Macht Facebook misanthropisch?

„Je näher ich die Menschen in ihrem Online-Gebaren betrachte, je tiefer sie mir Einblicke in ihr Leben und ihren Charakter gewähren (…) , desto unappetitlicher und weniger erstrebenswert finde ich viele und vieles“, schreibt die Autorin. (Seite 163/164) Ja, das kann ich verstehen. Ich behaupte ja selbst oft, in der Prä-Internet-Ära seien die Menschen viel diskreter blöd gewesen. Und so kann ich auch diesen Gedankengang nachvollziehen: „Viel interessanter als die Frage, ob Social Media die Einsamkeit der Menschen vergrößern, fände ich darum die Forschungsfrage, ob diese Seiten Menschen zu größeren Misanthropen machen – Arbeitsthese: definitiv!“ (Seite 164) Okay – also das mit dem Internet führt irgendwie auch zu nichts.

Gibt’s eigentlich tolle Vorbilder für alleinstehende Frauen? Oder existiert ein unausgesprochener gesellschaftlicher Zwang, eine Beziehung zu führen? „Warum ist es sozial gesehen völlig akzeptabel, bei (…) oberflächlichen Gesprächsangelegenheiten zu thematisieren, warum man eigentlich ‚immer noch alleine sei’. (…) Und warum darf man als Single umgekehrt nicht nachfragen, warum sie denn eigentlich noch immer mit ihm zusammen sei?“ (Seite 203) Anja Rützel hat schon wunderbare Einfälle! 😀

Parasoziale Beziehungen

Bis zu einem gewissen Grad können Held*innen aus Fernsehserien als Freundesersatz dienen. Man hat herausgefunden, dass Menschen in akuten Krisen von ihrer Lieblings-TV-Serie getröstet werden können. (Das kann ich bestätigen!). Diese einseitigen „parasozialen“ Beziehungen ähneln zwischenmenschlichen Freundschaften wenn man sich immer mehr in die erfundenen Welten und die Probleme und Eigenheiten der fiktiven Persönlichkeiten vertieft. Bis allerdings Roboter als Beziehungssurrogat fungieren können, wird es noch eine Weile dauern.

Nachdem die Autorin das Thema Alleinsein und Einsamkeit auf intelligente und amüsante Weise von allen Seiten beleuchtet hat, kommt sie für sich zu dem Schluss: „Die Einsamkeit will in Zaum gehalten werden, damit sie nicht wuchert und außer Kontrolle gerät.“ (Seite 260) Manchmal muss man sich eben einen Schubs geben, um Leute zu treffen, die man mag, obwohl man eigentlich gerade zu faul ist, das Haus zu verlassen. Allein sein sollte man, wenn und weil man es so möchte, und nicht, weil man sich vor den anderen Menschen und der Welt da draußen fürchtet.

Ich kann nicht genau einordnen, was ich hier gelesen habe. Ein Ratgeber war’s nicht. Ein Erfahrungsbericht? Ein Essay? Na, wie auch immer: Unterhaltsam war’s, erhellend war’s auch – und es vermittelt einem das beruhigende Gefühl, dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie man ist, selbst als „Einzelerwachsener“ – solange man es nicht übertreibt.

Die Autorin

Anja Rützel, Jahrgang 1973, ist Journalistin, bekennender Trash-TV-Fan und große Tierliebhaberin. Sie arbeitet als freie Autorin u. a. für SPON, SPEX und das SZ-Magazin. Am liebsten jedoch geht sie raus in die Welt und schaut sich sonderbare Tiere an. Mit ihrem Hund Juri lebt sie in Berlin.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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