Marlies Ferber: Wohin die Reise geht. Roman, München 2021, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-26267-5, Klappenbroschur, 288 Seiten, Format: 13,4 x 2,7 x 21,1 cm, Buch: EUR 15,90 (D), EUR 16,40 (A), Kindle: EUR 12,99.
„Warum hatte Jakob nicht einfach Nein gesagt? Wenn sie wenigstens attraktiv gewesen wären, aber die eine war zu alt und die andere zu jung, und mit beiden stimmte was nicht. Eine ganze Menge stimmte da nicht.“ (Seite 47)
Jakob Hüfner, 72, aus Bremen, hat schon bessere Zeiten gesehen. Er war Chef einer Kaffeerösterei, ehe er Pleite ging und er war glücklich mit Viktoria verheiratet. Jetzt ist er Witwer, haust in einer ärmlichen Wohnung und muss sich das Geld für ein popeliges Radio vom Mund absparen.
Bargeld-Schmuggel für den Sohn
Durch den Konkurs hat Familie Hüfner auch ihr Privatvermögen verloren. Für Jakobs Sohn Lukas – heute selbst ein erfolgreicher Unternehmer – war das ein traumatisierendes Ereignis. Vielleicht hat er deshalb Angst davor, eines Tages in die gleiche Situation zu geraten und vor dem Nichts zu stehen. Wie sonst wäre er auf die unselige Idee gekommen, eine Million Euro an der Steuer vorbei in die Schweiz schmuggeln zu wollen, um die finanzielle Sicherheit seiner Kinder zu sichern? Er macht doch normalerweise keine krummen Sachen!
Das hat er auch dieses Mal nicht vor. Sein Vater soll das Geld über die Grenze bringen und in Lugano bei einer Bank einzahlen. Einem Gentleman alter Schule wie ihm wird man vermutlich abnehmen, dass er in Schweiz nur Urlaub machen will. Der wird nicht gefilzt. Jakobs erste Reaktion auf dieses Ansinnen ist: „Bist du nicht ganz bei Trost, mein Junge?“ (Seite 14) Aber er lässt sich schnell breitschlagen. Schließlich glaubt er, bei seiner Familie etwas gut machen zu müssen. Und nein zu sagen war noch nie seine Stärke.
Und ein Kommissar fährt mit …
Das zeigt sich auch, als er seinem Kumpel und Chor-Kollegen Matthias „Matjes“ Brockmeyer (40, geschieden) von seinen vorgeblich harmlosen Reiseplänen erzählt. Ach, in die Schweiz? Das ist ja klasse! Matjes hat sowieso noch Urlaub übrig, da könnte er ja mitkommen. Besser noch: Sie könnten mit seinem Wohnwagen fahren! Der Ex-Seemann ist Feuer und Flamme von der Idee, Jakob eher weniger. Matjes ist nämlich ausgerechnet Kriminalkommissar, und so einen kann er bei seinem zwielichtigen Vorhaben gar nicht gebrauchen! Von dem Geld darf er nichts wissen! Doch wir ahnen es schon: Ein paar Tage später zuckeln die beiden Sangesbrüder samt Matjes’ Schäferhund Eddie – einem ausgemusterten Polizeihund – mit dem Wohnwagen in Richtung Süden.
Wenn schon der Sohn durch Ausspielen der Schuldkarte und der gesundheitlich angeschlagene Kumpel so schnell ihren Willen kriegen, wie wird’s dann erst sein, wenn Jakob auf eine Dame in Not trifft? – Genau! Auf einer Autobahnraststätte begegnet Jakob, während Matjes kurz seinen Hund Gassi führt, gleich zweien.
Zwei Frauen in Not
Die pfiffige Ex-Sängerin und Ex-Lehrerin Tilda Crussol, 67, hat ein gewaltiges Problem: Sie ist auf der Raststätten-Toilette aufgewacht und kann sich nicht erklären, wie sie überhaupt dort hingekommen ist. Ihrer Erinnerung nach müsste sie zuhause in Heidelberg sein. Hat eine Reisegruppe sie vergessen? Sie weiß es nicht.
Subjektiv hat Tilda den Eindruck, dass ihr Verstand tadellos funktioniert, trotzdem passieren ihr in letzter Zeit immer wieder so merkwürdige Dinge … Doch der distinguiert aussehende Herr mit Fliege und dem tadellos gebügelten Hemd wird ihr bestimmt aus der Patsche helfen und sie in die nächste Stadt bringen. Sie spricht ihn an.
So etwas in der Art denkt sich auch die achtzehnjährige Alexandra „Alex“ Rubinetto. Sie hält Jakob und Tilda für ein seriöses älteres Ehepaar und tischt ihnen die Geschichte von der verzweifelten Abiturientin auf, die vom Sprachreisebus versehentlich an der Raststätte zurückgelassen wurde. Umkehren und sie abholen kann die Gruppe nicht, weil sie sonst alle ihre Fähre verpassen würden. Wenn Alex mit ihnen mit will, muss die den Bus irgendwie einholen. Ob Jakob und Tilda vielleicht so lieb wären …?
Der Mann, der nicht Nein sagen kann
Aber sicher! Da lässt sich doch der gutmütige Ruheständler nicht lange bitten! Polizist Matjes ist von den beiden Neuzugängen deutlich weniger erbaut. Tilda, „die Singdrossel“, hält er für dement und Alex, „die junge Sprotte“, für eine verlogene Ausreißerin, die mächtig Dreck am Stecken hat und vor jemandem auf der Flucht ist. Aber was soll er machen? Auf dieser Reise ist Jakob der Boss, und damit sind die beiden Damen mit an Bord.
Ja, zugegeben: die weibliche Gesellschaft ist schon ganz nett. Doch als die Vierergruppe wegen einer Polizeikontrolle in einen Stau gerät, geht alles schief. Auf einmal wissen alle von der versteckten Million, und dann ist das Mädchen weg, der Hund weg und das Geld auch, Matjes ist verletzt und Jakob, dem die ganze Zeit per Telefon sein Sohn im Nacken sitzt, ist komplett überfordert. Die Mission Lugano erweist sich als komplettes Desaster.
Als Tilda zurück bei ihren Angehörigen ist, ist die Geschichte für die beiden Männer noch lange nicht ausgestanden. Die junge Alexandra mag ein abgebrühtes Luder sein, aber sie ist auch witzig, klug und gebildet, und Matjes hat sie lieb gewonnen. Er macht sich Sorgen um sie. Sie hat etwas Besseres verdient als das Leben, das sie führt. Und er fürchtet, dass sie ihre Schwierigkeiten, von denen er nur eine ungefähre Vorstellung hat, nicht aus eigener Kraft bewältigen kann.
Was ist wirklich mit Tilda los?
Jakob hat sich in die quirlige Tilda verguckt. Ein unangekündigter Besuch bei ihr bietet mehr als nur eine Überraschung und Jakob wird schlagartig klar, was ihr Problem ist. Aber sie will seine Meinung gar nicht hören. Manchmal ist es schwer, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Jakob stellt ja auch die Stacheln auf, wenn jemand seine Liebsten kritisiert. Vielleicht ist es an der Zeit, die rosarote Brille abzunehmen und einige Dinge im Leben neu zu bewerten. Auch wenn’s weh tut.
Auch Alexandra Rubinetto und Matjes Brockmeyer geraten nach dieser missratenen Kurzreise – jeder für sich – in eine existenzielle Krise. Ja, das kann man durchaus so sagen. Für beide geht’s um Leben und Tod …
Nein, das ist kein Krimi, auch wenn hier Leute mit enormer krimineller Energie unterwegs sind. Wenn der Roman ein Film wäre, wäre er ein Roadmovie. Ich habe mir tatsächlich während des Lesens vorgestellt, wie man die Geschichte verfilmen könnte. Aber weiß nicht, ob im Film das mit den Rückblenden so gut funktionieren würde. Beim Lesen klappt das wunderbar: Nach und nach erfahren wir, welche „Päckchen“ unser Held*innen-Quartett zu tragen hat, und wir können ihre (Re-)Aktionen immer besser verstehen. Je mehr wir wissen, desto größer wird aber auch unsere Besorgnis, denn sie stecken alle viel tiefer im Schlamassel als es zunächst den Anschein hatte. Wie wird sich das nur alles auflösen? Und wer hat jetzt eigentlich die Million …?
Ein wilder Abenteuertrip
Die Geschichte vom wilden Abenteuertrip einer kuriosen Reisegruppe ist spannend und unterhaltsam und ich habe sie mit großem Vergnügen gelesen. Trotz ihrer Macken sind die vier Hauptpersonen sympathisch und man möchte unbedingt, dass sich alles für sie zum Guten wendet – auch wenn man sich nicht vorstellen kann, wie das funktionieren soll. Es geht in diesem Roman um Freundschaft und Vertrauen und um (familiäre) Bindungen, die leider nicht immer so liebevoll, stabil und unkompliziert sind, wie wir es gerne hätten.
Die Autorin
Marlies Ferber, geboren 1966, studierte Sinologie in Deutschland, China und den Niederlanden und arbeitete als Verlagslektorin, bevor sie sich ganz dem Schreiben und Übersetzen widmete. Sie ist freie Dozentin für kreatives Schreiben der Bundesakademie Wolfenbüttel und lebt mit ihrer Familie in Hagen.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de