Katrin Burseg: Unter dem Schnee. Roman

Katrin Burseg: Unter dem Schnee. Roman, München 2021, Diana Verlag, ISBN 978-3-453-29222-2, Klappenbroschur, 399 Seiten, Format: 13,6 x 3,5 x 20,7 cm, Buch: EUR 18,00 (D), EUR 18,50 (A), Kindle: EUR 13,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Diana Verlag

„Luise hatte sich in ihr Pflichtbewusstsein, in die Arbeit geflüchtet. […] Kein Wort von Fritz, von dem man nicht wusste, wo er abgeblieben war. Kein Wort über Wolf, von dem man auch noch nichts gehört hatte. Kein Wort dazu, wie Luise das alles schaffte. Und so richteten sie sich alle ein in der Sprachlosigkeit.“ (Seite 363)

Schloss Schwanenholz, Schleswig-Holstein, Ende Dezember 1978 – Es ist schon ein wenig makaber: 50 Jahre lang hat Gräfin Luise von Schwan (78) die Baumschule auf ihrem Gut an der Ostsee geleitet. Jetzt ist sie verstorben. Trauergäste aus nah und fern sitzen in der Kirche, doch aus dem Begräbnis wird nichts: Ein Schneesturm zieht auf, der geschmückte Weihnachtsbaum der Gemeinde fällt auf den Sarg und auf den Pfarrer. Ende der Zeremonie. Die Beerdigung wird erst einmal vertagt.

Die Trauergäste sind eingeschneit

Seufzend überschlägt Köchin Isa Wollin, ob sie es schafft, die Gäste, die auf dem Gut einquartiert werden, länger als geplant zu verköstigen. Klementine von Rüstow, Luises jüngere und etwas labile Schwester ist unter den Gästen sowie ihr Sohn Carl und dessen hochschwangere Ehefrau Anette. Klementines jüngerer Sohn Johann wohnt mit Tochter Carolin (15) ohnehin dort. Frau hat er keine. Die hat ihn verlassen, als Carolin noch ein Baby war. Nicht als Übernachtungsgast eingeplant war die Journalistin Sibylle Meister, eine Vertraute Luises, und Niklas, Carolins Freund. Die können bei diesem Sauwetter unmöglich nach Hause fahren. 

Geheimnis mit Sprengkraft

Als alle schon beim Essen sitzen, bringt Pastor Siebeling noch einen Überraschungsgast vorbei: Aimee Caroux (30+), eine Fotografin aus Arles/Südfrankreich. Die ist froh, nun doch nicht zu spät zu Luises Beerdigung zu kommen. Über ihre Verbindung zur Gräfin äußert sie sich zunächst kryptisch. Sie weiß erstaunlich viel über die Familie von Schwan und lässt irgendwann dann doch die Bombe platzen: Sie sei die Tochter von Luise und Dr. Antoine Caroux, der im Krieg als Zwangsarbeiter auf dem Gut gearbeitet hat. 

Die Reaktionen auf diese Eröffnung sind unterschiedlich. Luises Schwester bestreitet alles. Carl und Johann, Luises Nachfolger auf dem Gut, sind sprachlos. Was bedeutet das für sie? Müssen sie ihr Erbe nun mit der französischen Cousine teilen? Oder haben Aimees Ansprüche, wenn sie wirklich Luises leibliche Tochter ist, vielleicht sogar Vorrang?

Bewältigen oder beschönigen?

Johann, den sein Bruder heutzutage vermutlich als „linksgrünversifften Gutmenschen“ beschimpfen würde, ist für den verwandtschaftlichen Neuzugang offen. Er hätte nur gerne einen Beweis für Aimees Behauptungen. Der aggressive Carl ist jedoch auf Krawall gebürstet. Ihm passt schon nicht, dass die Baumschule mit Zwangsarbeit in Verbindung gebracht werden könnte. Das ist schlecht fürs Image. Sollten im Firmenarchiv irgendwelche Hinweise darauf liegen, müssen diese sofort vernichtet werden! Johann ist dagegen und plädiert für Vergangenheitsbewältigung. Darüber entspinnt sich eine handfeste Auseinandersetzung.

Unter normalen Umständen würden Carl und Anette jetzt empört heimfahren und auch Aimee würde vor dieser feindseligen Atmosphäre schnellstmöglich wieder zurück nach Arles flüchten. Doch die Umstände sind nicht normal. Der Schneesturm tobt, die Leute auf dem Gut sind meterhoch eingeschneit und werden das auch die nächsten fünf Tage noch sein. Die Telefonleitungen sind tot, der Strom ist ausgefallen. Ohne Ausweichmöglichkeit hocken die gegnerischen Parteien nun aufeinander und müssen irgendwie mit der Situation klarkommen.

Traumatische Erinnerungen

Die alten Geschichten und die eisigen Temperaturen legen bei Klementine und Carl lange verdrängte Erinnerungen an die Flucht aus Pommern und weitere Familiendramen frei. Was sich schon in der Kurzfassung traumatisch anhört: Tochter/Schwester auf dem Treck in den Westen erfroren, Sohn/Neffe/Cousin im Krieg vermisst, entpuppt sich beim detailreichen Rückblick als der blanke Horror. Kein Wunder, dass Carl so geworden ist, wie er ist und dass Klementine durch diese Flut von Erinnerungen einen Nervenzusammenbruch erleidet. Doch die Vergangenheit und deren Verdrängung, Bewältigung oder Beschönigung ist nicht das einzige Problem, das die Leute auf dem Gut Schwanenholz im Moment haben.

Johann und Sibylle schnappen sich den Trecker und wollen sich damit ins wenige Kilometer entfernte Dorf durchschlagen um Hilfe zu holen – und bei der Gelegenheit vielleicht auch kurz beim Pfarrer ins Taufverzeichnis zu schauen, ob sich da nicht ein Hinweis auf Aimee und ihre Abstammung findet. Doch sie kommen nicht wieder.

Gefährlicher Weg ins Dorf

Ausgerechnet jetzt setzen bei Carls Frau die Wehen ein. Carl macht sich mit Niklas, dem Freund seiner Nichte Carolin auf den gefährlichen Weg ins Dorf, um einen Arzt zu holen. Nicht ohne der Nichte, die sich um ihren Vater da draußen sorgt, zuvor noch schnell ein weiteres schreckliches Familiengeheimnis vor den Latz zu knallen. Das wirft das arme Mädchen völlig aus der Bahn. Ja, Carl hat viel mitgemacht im Leben, aber muss er deshalb so ein gnadenloses Ar***l*ch sein? Man könnte ihn ohrfeigen! Den Tod im Schnee wünscht man ihm aber auch nicht, und so zittert man mit ihm und dem unbedarften Teenager „Niki“ mit, während die beiden sich durch die weiße Hölle kämpfen.

  • Kommen Johann und Sibylle, Carl und Niklas heil durch Eis und Schnee?
  • Überstehen Mutter und Kind die Entbindung ohne sachkundige Hilfe?
  • Und last not least: Kann Aimee belegen, dass sie Luises Tochter ist? Wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Und wenn es stimmt, was sie sagt, warum ist sie dann ohne Mutter aufgewachsen? Es hätte doch Möglichkeiten gegeben!

Was damals wirklich geschah …

Nur eine Person weiß genau, was während des Krieges auf Gut Schwanenholz geschehen ist: die herrlich pragmatische Köchin Isa, die als Tochter einer Bediensteten dort aufgewachsen ist. Doch sie hat damals versprochen zu schweigen und daran hält sie sich eisern.

Es ist natürlich hart, wenn in einer so klaustrophobischen Situation auf einmal sämtliche Lebenslügen und Geheimnisse einer ganzen Sippe auf den Tisch kommen. Und weil man nicht ausweichen kann, muss man sich nun endlich den alten Rivalitäten und tief sitzenden Schuldgefühlen stellen. Mehr als einmal steht die Frage im Raum, ob die Wahrheit in jedem Fall besser sei als eine gnädige Lüge.

Jedes der kurzen Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Angehörigen/Mitarbeiters der verstorbenen Gräfin erzählt. (Der hilfreiche Stammbaum der Familie von Schwan versteckt sich auf Seite 393!) Nach und nach erfahren wir, was sich vor Jahrzehnten alles ereignet hat und wie sich das bis in die Gegenwart auswirkt. Die Situation der Eingeschneiten und ihre hilflosen Rettungsversuche sind ein weiteres Spannungselement. 

Packend und beklemmend

An den Wintereinbruch zu Silvester 78 erinnere ich mich, wobei er bei uns im Süden nicht so dramatisch war wie im Norden Deutschlands. Vor ein paar Jahren erst habe ich mir zu diesem Thema eine halbe Nacht mit TV-Dokumentationen um die Ohren geschlagen. Mir war die Situation sehr präsent und ich konnte den von Schwans einigermaßen nachfühlen, wie sie da im Halbdunkeln sitzen und sich mit angstbesetzten Themen auseinandersetzen müssen. Gut, manches in der Geschichte hätte man vielleicht ein wenig straffen können, aber ich fand’s packend.

Die Autorin

Katrin Burseg, geboren 1971 in Hamburg, studierte Kunstgeschichte und Literatur in Kiel, bevor sie als Journalistin und Autorin arbeitete. Sie wuchs in einem mehr als hundert Jahre alten Bauernhaus in Schleswig-Holstein auf. Als Kind erlebte sie die Schneekatastrophe im Jahrhundertwinter 1978/1979, mit ihrer Familie war sie mehrere Tage lang eingeschneit. Diese Erinnerung inspirierte sie zu ihrem Roman »Unter dem Schnee«.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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