Nicklas Brendborg: Gewohnheitstiere: Wie Industrie und Wissenschaft unsere Instinkte manipulieren, OT: Vanedyr, aus dem Dänischen von Justus Carl,Köln 2024, Quadriga Verlag, ISBN: 978-3-86995-146-1, Hardcover mit Schutzumschlag, 318 Seiten, Format: 13,5 x 3,3 x 21,5 cm, Buch: EUR 24,00, Kindle: EUR 14,99, auch als Hörbuch lieferbar.
„Wenn sich etwas besser als erwartet anfühlt, trainieren [die Dopamin-Peaks] das Gehirn darauf, die Handlung zu wiederholen, um das gleiche Gefühl noch einmal zu erleben. Wenn sich etwas schlecht anfühlt, sorgt dieser Mechanismus dafür, dass Sie genau das nicht wiederholen. […] Doch in der modernen Welt schlagen diese Mechanismen leider fehl und sorgen dafür, dass wir zu „leeren“ Belohnungen […] greifen, weil diese auf hinterhältigste Weise dazu erschaffen wurden, das Belohnungssystem unseres Gehirns unnatürlich stark zu aktivieren.“
(Seite 170)
Süchtig machende Superreize
Ich liebe Bücher, die mich ein wenig schlauer machen und mir verständlich und unterhaltsam erklären, was im Gehirn des Homo sapiens vorgeht. Der Autor kann das! Von ihm erfahren wir, warum wir uns so schwertun, schlechte Gewohnheiten abzulegen und wie andere dieses Wissen über den menschlichen Instinkt und die Biologie dazu benutzen, um süchtig machende Superreize zu schaffen. Nein, das ist keine Science-Fiction und auch keine Verschwörungserzählung, sondern penibel recherchierte Wissenschaft. Das Buch hat einen fast 50-seitigen Anhang mit Quellenangaben!
Warum sind dann auf dem Cover zwei Vogeleier zu sehen, wenn es doch um Menschen geht? Nun, die Superreize (Superstimuli) funktionieren auch bei Tieren. Wir mögen den kleinen Vogel belächeln, der versucht, Gips-Eier zu bebrüten, die wesentlich größer sind als er selbst. Instinktiv weiß er: großes Ei großes und gesundes Küken. Und so fällt er auf den übernormalen Schlüsselreiz herein, den Forscher ihm untergejubelt haben. Wir Menschen sind da aber nicht viel gescheiter!
Warum Fastfood so unwiderstehlich ist
Nehmen wir zum Beispiel die Ernährung. Wir wissen doch alle, was wir zur Erhaltung unserer Gesundheit essen sollten: viel Gemüse und Obst, eine ausgewogene Mischung aus Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten, am besten frisch gekocht. Gut. Und warum greifen wir dann wider besseres Wissen immer wieder zu hochverarbeitetem Fastfood? Weil diese Produkte gezielt so konzipiert sind, dass sie unser Belohnungssystem ansprechen. Seit „seinerzeit auf den Bäumen“ stehen wir auf süß, fettig, salzig – und auf Abwechslung. Wir lieben besonders Kombinationen, die so in der Natur gar nicht vorkommen. Nichts ist beispielsweise so süß und gleichzeitig so fetthaltig wie Schokolade.
Ob Süßes, Pizza oder Chips: Wir finden hochverarbeitete Nahrungsmittel so lecker, dass wir uns beim Verzehr kaum bremsen können. Irgendwo mag ein leises Stimmchen in uns piepsen, dass wir jetzt aber genügend Kalorien aufgenommen hätten, doch das ignorieren wir und mampfen munter weiter. Das ist natürlich kein Zufall: Je besser ein industriell gefertigtes Lebensmittel unseren Verstand austrickst und unser Belohnungssystem reizt, desto höher die Verkaufszahlen. (Interessant fand ich die Beobachtung, dass besonders beliebte Snacks ein ähnliches Verhältnis von Fett:Kohlenhydraten:Proteinen haben wie Muttermilch.)
Mehr, mehr, mehr!
Und dann kommt auch noch die Desensibilisierung ins Spiel. Das Belohnungssystem verlangt eine stetige Steigerung des Reizes, weil es sich mit der Zeit daran gewöhnt. Und so entwickelt sich ein einfaches Vanilleeis mit der Zeit zu einer Superstimuli-Bombe: Vanilleeis mit Keksstückchen, Karamellsoße, Schokosplittern und Erdnussbutter. Superreize plus Abwechslung. Der Wahnsinn!
Würde im Umkehrschluss das Abnehmen funktionieren, wenn das Essen langweilig wäre und nicht so viel Belohnung böte? Ja, im Prinzip schon. Die mehr oder weniger skurrilen Beispiele in dem Buch zeigen jedoch, das der Mensch so eine Diät auf Dauer nicht durchhält.
Frontalangriff aufs Belohnungssystem
Wir lieben nun mal die Abwechslung … und nicht nur beim Essen! Das gilt auch beim S*x. So legt der Coolidge-Effekt nahe, dass wir für die Monogamie vielleicht gar nicht geschaffen sind. Aber es zieht uns schon zu Paarbeziehungen hin. Also Monogamie plus Abwechslung? 😉 Schon fängt der Ärger an.
Was bei Lebensmitteln funktioniert – der Frontalangriff aufs Belohnungssystem – klappt natürlich erst recht bei Drogen. Diesem Thema ist ein eigenes Kapitel gewidmet mit interessanten Zahlen und Fakten. Gesundheitlich betrachtet scheint z.B. die US-amerikanische Prohibition keine so blöde Idee gewesen zu sein. Sie scheiterte jedoch an den gesellschaftlichen Nebenwirkungen.
Was wird wohl langfristig passieren, wenn Produktion und Vertrieb von Cannabis in den Händen legaler Unternehmen liegt? Wird das Zeug dann immer höher und höher gezüchtet, so drastisch, wie es kriminelle Elemente niemals hinkriegen würden? War dann die Legalisierung wirklich so ein schlauer Zug? Darüber denkt der Autor hier nach.
Superstimuli in den Sozialen Medien
Auch die sozialen Medien arbeiten mit Superreizen – mit sozialer Anerkennung, die sich in Klicks und Likes äußert. Man veröffentlicht etwas und sieht gleich, wie es ankommt. Positives Feedback vermittelt ein gutes Gefühl. Und der Mensch ist lernfähig. Wenn ein Beitrag erfolgreich war, wird man beim nächsten Mal Ähnliches posten.
Auch Facebook, Instagram & Co sind lernfähig. Haben wir in deren Anfangszeit überwiegend Postings von unseren Freunden gesehen, haben die Unternehmen inzwischen erkannt, dass deren Beiträge nicht so spannend sind, dass sie uns über längere Zeit hinweg auf der Seite halten. Genau das ist aber das Ziel, um uns mit so viel Werbung wie möglich zu „beglücken“. Deshalb beschert uns der Algorithmus der Seiten inzwischen einen abwechslungsreichen Mix aus Beiträgen, die uns erfahrungsgemäß gefallen werden („Katzenvideos“), Beiträgen von Freunden, gezielter Werbung – und gelegentlich wird etwas eingestreut, das uns gegen den Strich geht, weil auch Empörung Aufmerksamkeit ist, die uns bei der Stange hält. Das erklärt so manches!
Moment! Was passiert hier gerade?
Was bei Mensch und Tier gleichermaßen funktioniert: Der Sog der unerwartet hohen Belohnung. Wenn wir „Knöpfchen drücken“ und nie wissen können, ob uns jetzt eine kleine, eine mittelprächtige oder eine supertolle Belohnung winkt, sind wir wie hypnotisiert und können einfach nicht aufhören. Das ist bei Spielautomaten so und beim Scrollen durch Social Media. Ich stelle fest, dass es mir auch bei der Arbeit mit der KI so geht: Ich prompte (Bilder) und warte gespannt auf das Ergebnis. Mal ist es bäh, mal meh und gelegentlich auch wow. Ich habe damit schon erschreckend viel Zeit verdaddelt.
Möglicherweise hilft es, wenn man diese Mechanismen (er-)kennt und sagen kann: „Moment, stopp! Was passiert hier gerade? Das will ich doch gar nicht!“ Und vielleicht – so hofft der Autor – kommt auch mal jemand auf die Idee, Superstimuli für etwas Positives zu nutzen. Das wäre schon schön!
Ausgesprochen faszinierend
Ich finde das Buch ausgesprochen faszinierend. Der Autor stellt hochinteressante Fragen und liefert plausible Antworten. Wenn er keine Antworten hat, präsentiert er uns zumindest ein paar hilfreiche Überlegungen. Und er beherrscht die Kunst, lebendig, volksnah und unterhaltsam zu erzählen, ohne abschweifend und geschwätzig zu werden. Wofür ich ihm außerordentlich dankbar bin.
Der Autor
Nicklas Brendborg ist Postdoktorand für Molekularbiologie an der Universität Kopenhagen und Absolvent des Novo Nordisk International Talent Program sowie des Novo Scholarship Program. Sein Buch QUALLEN ALTERN RÜCKWÄRTS war ein großer Erfolg in Dänemark und die Übersetzungsrechte wurden in über zwanzig Länder verkauft. In Deutschland erhielt es zudem die Auszeichnung Wissensbuch des Jahres 2022 in der Kategorie »Überraschung – Das originellste Buch«.
Der Übersetzer
Justus Carl studierte Skandinavistik, Romanistik und Politikwissenschaften in Frankfurt a. M. Heute arbeitet er als Literaturübersetzer aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen und lebt mit seiner Familie an der hessischen Bergstraße.
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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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