Elina Halttunen: Alles gut auf der Insel, Roman

Elina Halttunen: Alles gut auf der Insel, Roman, OT: Saaressa kaikki hyvin, aus dem Finnischen von Elina Kritzokat, München 2011, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24849-5, Softcover/Klappenbroschur, 298 Seiten, Format 13,5 x 21 x 3 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A)

„Wir Kinder hatten in der Villa so vieles gehört und gesehen! Hatten hinter Möbeln und Baumstämmen, in Schränken und Nischen oder einfach nur, indem wir uns schlafend stellten, mit unseren zarten Fühlern Stimmungen, Blicke und Halbsätze aufgegriffen, die wir in Gedanken vervollständigten. Hatten all das wahrgenommen, was nur über Umwege angedeutet oder verschwiegen wurde.“ (Seite 271)

In ihrer Kindheit in den 60-er Jahren hat die die Kostümbildnerin Maria Hämäläinen viel Zeit in der Ferienvilla ihrer Familie auf der Insel Månvik verbracht – zusammen mit Opa und Oma, der Haushälterin Ester, den Vettern Hannu und Jussi, die von Onkel Julius eigens jeden Sommer aus den USA hergeschickt wurden, damit sie ihr Finnisch nicht verlernen.

Marias Eltern, zwei viel beschäftigte Schauspieler, haben sich kaum je auf Månvik blicken lassen, genau wie Marias deutlich ältere Geschwister, Heli und Juhani, die der Inselidylle nie etwas abgewinnen konnten.

Irgendwann muss dann etwas passiert sein, das die Familie gründlich entzweit hat, denn als Maria, mittlerweile über 50, eine E-Mail ihres amerikanischen Cousins Hannu erhält, ist sie vollkommen überrascht. 43 Jahre lang hat sie nichts mehr von ihm gehört! Technikertypisch schreibt er ihr einen lapidaren Dreizeiler und kündigt einen Kurzbesuch in der alten Heimat an. Ob er Maria kurz vor Weihnachten in der Ferienvilla auf Månvik treffen könne …?

Maria ist neugierig – und organisatorisch flexibel. Sie lebt allein, ihre Kinder sind aus dem Haus, und ihre Entwürfe für die anstehende Theaterproduktion kann sie auch in der Ferienvilla fertig stellen. Also rafft sie ihre Unterlagen zusammen und fährt nach Månvik, um das derzeit unbenutzte Haus besuchsfein zu machen.

Während sie aufräumt, kramt und putzt, schweifen ihre Gedanken ab in die Vergangenheit … zurück zu endlos erscheinenden Sommern, lustigen und abenteuerlichen Kindheitserlebnissen und zur großen Verwandtschaft, in der beileibe nicht alles eitel Sonnenschein war.

Opa Oskar Falk, ein Karelier, der sich vom einfachen Schneider aus bescheidenen Verhältnissen zum erfolgreichen Geschäftsmann mit dubiosen Kontakten emporgearbeitet hat, ist ein Charmeur und Schwerenöter, mit dem es seine Frau Catharina, eine ehemalige Lehrerin, nicht immer leicht hat. Seine Eskapaden erträgt sie nur schwer, immer wieder verfällt sie in Depressionen. Für die Enkel freilich ist Opa Oskar ein guter Kumpel, der ihnen Schiffchen schnitzt, mit ihnen Lumpenlieder singt und ihnen das Angeln und Rudern beibringt.

Unerfreulich sind Marias Erinnerungen an Lennart, ihren jüngsten Onkel. Er kann es seinem Vater nie recht machen und ist länger im Knast als draußen. Wenn er bei der Familie auftaucht, herrschen Angst und Streitigkeiten.

Marias Schwester Heli wird als Teenager schwanger, ihre Schulfreundin trifft ein paar falsche Entscheidungen und kommt unter die Räder. Opa beginnt ein Langzeitverhältnis mit einer Mitarbeiterin und Oma ist deswegen unglücklich. Keine Frage: Die kleine Maria bekommt schon recht früh etwas von den Höhen und Tiefen des Lebens mit.

Zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen gehört eine Europatour mit ihren Großeltern. Nie wirkte Oma Catharina entspannter und fröhlicher als gegen Ende der Reise. Doch nach ihrer Rückkehr geschieht das Unfassbare: Oma, eine ausgezeichnete Schwimmerin, schwimmt aufs offene Meer hinaus und kehrt nicht mehr zurück. War es ein Unfall? War es Selbstmord? Aber welchen Grund sollte Catharina Falk gehabt haben, sich das Leben zu nehmen? Ob es mit dem Geheimnis zu tun hat, das sie ihrer Enkelin auf der Reise anvertraut hat? Und hängt das wiederum mit dem Geheimnis zusammen, das den glücklosen Onkel Lennart umgibt?

Nach Catharinas Tod ist jedenfalls nichts mehr, wie es war. Die Vettern werden eilig in die USA zurückexpediert und die Ferienvilla hört mit einem Schlag auf, das Zentrum des Familienclans sein. Zwar wird Catharinas Leichnam irgendwann gefunden, doch auch die Beerdigung bringt der Familie keinen Frieden. Solange sie nicht wissen, was an jenem Tag geschehen ist, können sie mit dieser Tragödie auch nicht abschließen.

Erst rund dreißig Jahre nach Catharinas Verschwinden hat Maria alle Puzzleteilchen zusammen und kann sich ein Bild von den tragischen Ereignissen machen, die schließlich zum Tod ihrer Großmutter geführt haben. Und das ist eine Geschichte, die weit in die Vergangenheit zurückreicht …

Wenn ihr amerikanischer Cousin jetzt, nach all den Jahren, Antworten haben will, kann sie ihm welche geben. Aber kommt er überhaupt wegen der alten Familiengeschichten? Oder hat er einen anderen Grund, nach vier Jahrzehnten des Schweigens plötzlich aufzutauchen?

Es ist ein Vergnügen, wie Maria – oder, besser gesagt, die Autorin Elina Halttunen – aus dem prallen Leben erzählt! Das geschieht nicht immer streng chronologisch, sondern manchmal auch spontan und assoziativ: Irgendein Gegenstand oder ein Gedankenfetzen löst eine Erinnerung aus. Nach und nach ergibt sich ein farbenprächtiges Bild einer chaotischen und ungewöhnlichen, aber dennoch behüteten Kindheit.

Maria erzählt von Freundschaft und Erwachsenwerden, von Liebe, Untreue und Eifersucht, Betrug und Manipulation, von Erfolgen und vom Scheitern, von Hoffnung und Verzweiflung, Krankheit und Tod. Und von der eindrucksvollsten Gestalt in ihrem Leben: Großvater Oskar Falk, einem Naturereignis von einem Mann, charismatisch und egoistisch. Auf die eine oder andere Art bekommt Oskar immer seinen Willen, auch wenn seine Mitmenschen und er einen hohen Preis dafür bezahlen müssen. Sein Umfeld liebt und bewundert ihn, doch es durchschaut ihn nicht. Ihm selbst wird sein Tun und dessen Folgen erst im hohen Alter bewusst, als es für eine Umkehr längst zu spät ist und die Familienkatastrophen nicht mehr rückgängig zu machen sind.

„Alles gut auf der Insel“ ist großartige Unterhaltung mit Herz und Verstand und ist für Altersgenossen von Maria zusätzlich eine kleine Zeitreise in die eigene Kindheit und Jugend.

Was manchmal etwas schwierig ist, ist das Auseinanderhalten der Personen. Da sie zum Teil der schwedischstämmigen Minderheit in Finnland angehören, führen sie eine schwedische und eine finnische Variante ihres Namens und gelegentlich einen Spitznamen noch dazu.

Opa Oskar Falk ist immer Opa Oskar Falk. Bei seiner Frau wird’s schon schwieriger: Oma Catharina = Sanna = Partisanna. Vetter Hannu = Hans, Vetter Jussi = Johan. Aber bitte nicht verwechseln mit Juhani, das ist Marias Bruder. Und auch nicht mit Julius, das ist der Vater der Buben. Marias Mutter heißt Helen, ihre älteste Tochter Heli. Maria selbst wechselt zweimal den Namen: Aus Marie Autere wird durch Adoption Maria Falk und durch Heirat Maria Hämäläinen. Marja Autere wiederum ist ihre Schwägerin.

Das erfordert ein bisschen Konzentration, und manchmal kommt man schon ins Grübeln: „Wer ist noch mal dieser Gustav, der da mit an der Kaffeetafel sitzt?“ Aber das ist eine bekannte Nebenwirkung von personalintensiven Geschichten mit Namen aus einer Sprache, die einem nicht vertraut ist. Von den kurzen Momenten der Orientierungsschwäche sollte man sich keinesfalls davon abhalten lassen, diesen wunderbaren Roman zu lesen!

Die Autorin
Elina Halttunen, geboren 1952, lebt in Helsinki. Sie besuchte die Theaterhochschule in Helsinki und schrieb Drehbücher für viele erfolgreiche finnische Fernsehserien. „Alles gut auf der Insel“ ist ihr erster Roman.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
     
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