Liv Winterberg: Vom anderen Ende der Welt – Roman, München 2011, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24847-1, Softcover/Klappenbroschur, 445 Seiten, Format: 21 x 13,2 x 4,4 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A).
„Jetzt wissen alle, dass du, eine Frau, zeichnest, katalogisierst und sammelst, aber du tust es allein. Niemand spricht mehr mit dir. (…) Was nützt es, Grenzen zu überschreiten, wenn dahinter niemand mehr ist, der dir begegnet?“ (Seite 333)
Plymouth, spätes 18. Jahrhundert: Der Arzt und Botaniker Francis Linley muss ein ungewöhnlich fortschrittlicher Mann gewesen sein, denn er hat, entgegen der Gepflogenheiten seiner Zeit, seine Tochter Mary zur Botanikerin ausgebildet. Auch über medizinische Kenntnisse verfügt sie.
Jetzt ist Francis Linley nach menschlichem Ermessen tot: Das Forschungsschiff, mit dem er unterwegs war, ist bei Kap Hoorn zerschellt. Seit 7 Monaten wartet seine 19-jährige Tochter nun wider besseren Wissens auf seine Rückkehr.
Mary ist derzeit in der Obhut ihrer Tante Henriette Fincher, der Schwester ihres Vaters. Der knapp 30-jährigen Witwe wird die Verantwortung für ihre Nichte schnell zuviel. Sie tut das damals Naheliegende und versucht, Mary schnellstmöglich gut zu verheiraten. Das allerdings ist nicht in Marys Sinn. Am liebsten würde sie die Arbeit ihres Vaters fortsetzen, die Welt bereisen und erforschen, Pflanzen sammeln, dokumentieren und katalogisieren. Doch als sie sich mit ihrer Arbeitsmappe beim Navy Board vorstellt und für den Posten eines botanischen Mitarbeiters auf dem Forschungsschiff „Sailing Queen“ bewirbt, fliegt sie in hohem Bogen hinaus.
Ach, wenn die doch nur ein Mann wäre! Aber sie kann sich nun mal in keinen verwandeln. Ein Präparat aus der Sammlung ihres Vaters bringt sie schließlich auf eine Idee: Ein Blattschmetterling, der seine Flügel schließt, sieht aus wie ein getrocknetes Blatt. Perfekt in seiner Nachahmung und Anpassung. Mary muss gar kein Mann sein – es reicht, wenn ihre Mitmenschen sie für einen halten!
Blattschmetterling
Jetzt geht’s schnell: Haare abschneiden, Brust platt bandagieren, Kleidung des Vaters anziehen, ein bisschen Dreck ins Gesicht schmieren, mit einem Halstuch das Fehlen des Adamsapfels kaschieren, und aus Mary Linley wird Marc Middleton, der anstandslos als botanischer Zeichner für die Expedition der „Sailing Queen“ engagiert wird, wo er dem Botaniker Carl Belham und dessen Gehilfen Franklin Myers zuarbeiten soll. Geschafft!
Doch mit der Seefahrerromantik ist es nicht weit her. Es fängt damit an, dass der brutale Bootsmann Kyle Bennetter Marc/Mary nicht, wie vereinbart, auf dem Achterdeck bei den Wissenschaftlern einquartiert, sondern im Mannschaftsdeck bei den Matrosen. Und natürlich ist „Marc“ mit jeglicher Seemannstätigkeit überfordert, was „ihm“ gleich mal Prügel einträgt. Nur Henry, der Smutje und der kleine Schiffsjunge Seth sind freundlich zu Mary.
Sir Carl Belham erweist sich zum Glück als kompetenter und angenehmer Vorgesetzter und als charismatischer Mann. Franklyn Myers, der botanische Assistent, der Mary angeheuert hat, ist ein sympathischer Kollege.
Unterdessen wird Mary Linley natürlich zu Hause vermisst. Nicht von Tante Henriette, aber vom alten Diener William Middleton, der sie von klein auf kennt. Er vermisst sie sehr und hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum und wohin sie verschwunden ist. Nur glaubt ihm keiner. Außer dem alten William nimmt noch der Kaufmann Landon Reed Anteil am Schicksal der jungen Frau. Er galt als möglicher Heiratskandidat und war sehr von Marys Klugheit und Bildung beeindruckt.
Kaum vier Wochen ist die „Sailing Queen“ unterwegs, als Marys Tarnung schon auffliegt. Franklin Myers kommt hinter ihr Geheimnis. Doch er verrät sie nicht. Dafür hat er Gründe: 1. würde er als Trottel dastehen, weil er es war, der Mary eingestellt hat. 2. sind Carl und er auf den Zeichner angewiesen und wollen ihn nicht verlieren. Und 3. gibt’s auf dem Schiff auch so schon genügend Probleme. Da muss nicht noch durchsickern, dass eine Frau an Bord ist. Also läuft alles weiter wie bisher.
In Rio de Janiero gehen die Exkursionsteilnehmer heimlich von Bord, weil der königliche Statthalter Brasiliens der Manschaft jeglichen Landgang untersagt hat. Legal oder illegal – Mary ist selig. Sie ist auf einem fremden Kontinent und erforscht die dortige Vegetation! Ganz ohne Kulturclash gehen solche eine Forschungsarbeiten natürlich nicht ab: Die Begegnung der prüde erzogenen Engländerin mit den nahezu unbekleideten „Wilden“ Feuerlands hat durchaus ihre komischen Seiten.
Von den Exkursionen abgesehen gibt es auf dieser Reise nicht viele Glücksmomente. Die christliche Seefahrt ist rau. Der beengte Lebensraum und die zusehends verrottenden Nahrungsvorräte werden immer unerträglicher, je länger die Reise dauert. Die Mannschaft hat nicht nur mit den Naturgewalten zu kämpfen, sondern auch mit allerlei Krankheiten. Nachdem der Schiffsarzt ausfällt, übernehmen die Botaniker mehr schlecht als recht die gesundheitliche Versorgung der Mannschaft. Gegen viele Leiden sind sie machtlos, und die Mannschaft hat hohe Verluste zu beklagen. „Vater, dachte sie und unterdrückte die wieder aufsteigenden Tränen. Du hast mir nie erzählt, wie schlimm es auf solch einer Reise wirklich ist.“ (Seite 260)
Als sie im April 1786 vor Tahiti segeln, erfährt Mary, dass Carl Belham im Auftrag der Royal Society auf den Inseln bleiben wird um seine Forschungsarbeiten vor Ort fortzusetzen. Erst in ein bis zwei Jahren soll er wieder abgeholt werden. Er fragt Mary, ob sie nicht als Assistent/in bei ihm bleiben möchte. Das wäre die Erfüllung all ihrer beruflichen Träume! Aber kann sie ihm zusagen? Sie fühlt sich von Carl angezogen, aber er hält sie ja für einen Mann! Doch Mary weiß nicht, was der Leser weiß: Carl ist längst im Bilde …
Wird’s ein Happy End geben? Nun ja … in gewisser Weise … vielleicht. Das Leben ist kein Kitschroman, und Liv Winterbergs Buch basiert lose auf der Lebensgeschichte der französischen Botanikerin Jeanne Baret, die 1768 als angeblich männlicher Assistent des Botanikers Commerson um die Welt gesegelt ist. Warum die Autorin nicht gleich Barets Geschichte erzählt hat? Vermutlich, weil ihr ein Roman mit fiktiven Personen mehr dichterische Freiheit gelassen hat.
Liv Winterberg arbeitet unter anderem als Drehbuchautorin und Rechercheurin. Beides merkt man dem Buch an. Lebendig, anschaulich und ereignisreich läuft die Fahrt der „Sailing Queen“ vor dem Leser ab. Und ohne dass „Infodumping“ betrieben wird, spürt man, dass die Autoren sich intensiv mit Seefahrt, dem damaligen Stand der Wissenschaft und der Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat.
Zum Thema „Recherche“ sagt sie in einem Interview mit dtv: „ Zahlreiche Bücher, die sich mit den Themen der Entdeckungsfahrten, Botanik, Heilkunde, Schiffsbau usw. befassten, habe ich gelesen, teilweise mehrfach. Zudem habe ich verschiedene Museen besucht, in Berlin haben wir ja eine große Auswahl. Hierzu gehörten auch, was bei dem Thema nahe liegend ist, einige Besuche in den Botanischen Garten. Weiterhin habe ich Filme und Dokumentationen geschaut, Reiseführer verschlungen und Zeitungen durchforstet. Entscheidend waren aber oft die Auskünfte von Experten, die mir immer wieder Frage und Antwort standen, zum Teil sogar den ganzen Roman gelesen haben.“ Quelle: http://www.magazin.dtv.de/index.php/2011/06/15/liv-winterberg/
Ein Glossar im Anhang des Romans erläutert dem Leser zentrale Begriffe, deren allgemeine Bekanntheit nicht vorausgesetzt werden kann. In diesem Anhang findet man auch Informationen über das reale Vorbild für den Roman: die Botanikerin Jeanne Baret.
Auch wenn die Personen nicht bis in ihre allerletzten Seelenwinkel psychologisch ausgeleuchtet werden, haben wir alles andere als eine oberflächliche Hosenrollen-Schmonzette vor uns. „Vom anderen Ende der Welt“ schildert mitreißend und realitätsnah, wie eine mutige Protagonistin ihrem Antagonisten – der Gesellschaft ihrer Zeit – die Stirn bietet und ihren eigenen Weg geht.
Die Autorin:
Liv Winterberg, 1971 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Sie arbeitet für Film und Fernsehen als Drehbuchautorin und Rechercheurin. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin. „Vom anderen Ende der Welt“ ist ihr erster Roman.
Foto Blattschmetterling: feline groovy / flickr.com. You are free to Share — to copy, distribute and transmit the work under the following conditions: Attribution — You must attribute the work in the manner specified by the author or licensor (but not in any way that suggests that they endorse you or your use of the work). What does „Attribute this work“ mean? The page you came from contained embedded licensing metadata, including how the creator wishes to be attributed for re-use. You can use the HTML here to cite the work. Doing so will also include metadata on your page so that others can find the original work as well. Noncommercial — You may not use this work for commercial purposes. No Derivative Works — You may not alter, transform, or build upon this work.
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