Cornelia Read: Der Junge, den niemand sah, OT: The Invisible Boy, Deutsch von Sophie Zeitz, München 2013, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21458-2, Softcover, 444 Seiten, Format: 9 x 12 x 2,8 cm, EUR 9,95 (D), EUR 10,30 (A).
„Ich bin auf dem Friedhof. Mit der Mordkommission.“
„Bunny, alles klar bei dir?“
Das war das Tolle an Dean. Er regte sich nicht schnell auf. Was sich als notwendiger Charakterzug herausstellte für einen Menschen, der mit mir verheiratet war.“ (Seite 52)
New York im Herbst 1990: Madeline Ludlam Fabyan Dare ist wieder da – eines der unflätigsten Schandmäuler der modernen Krimiliteratur! Die ehemalige Journalistin und Lehrerin arbeitet jetzt im Callcenter eines Verlags und lebt mit Ehemann Dean Bauer, ihrer jüngeren Schwester Pagan und Freundin Sue in einer WG.
Wer die Vorgängerbände SCHNEEWEISSCHEN UND ROSENTOT und ES WARTET DER TOD nicht gelesen hat und nun die komplizierten Familienverhältnisse der Dares nicht versteht, braucht sich nicht zu grämen. Die sind undurchschaubar. Die wilde Hippiemutter von Madeline, Pagan und Halbbruder Trace, ist gerade im Begriff, zum vierten Mal zu heiraten. Die Kinder haben bei all den Stiefvätern und Liebhabern der Mutter schon selbst den Überblick verloren. Trotzdem ist die Familie kein white trash, auch wenn sie schon bessere Zeiten gesehen hat. „Meine gesellschaftliche Stellung war die von verarmten, angeknacksten Abkömmlingen von Mayflower-Schnöseln“, sagt Madeline dazu (Seite 25).
Als Cousine Cate von einem jahrhundertealten verwilderten Familienfriedhof in Queens erzählt, den sie wieder herrichten will, bietet Madeline spontan ihre Hilfe an – und entdeckt zu ihrem Entsetzen beim Unkrautjäten ein Kinderskelett. Der Friedhof wird seit 35 Jahren nicht mehr benutzt, doch das Kind hat moderne Turnschuhe getragen. Es wurde hier nicht offiziell bestattet. Jemand hat es ins Gebüsch geschmissen.
Detective Jayne Skwarecki von der Mordkommission braucht nicht lange, um herauszufinden, dass es sich bei dem Toten um den dreijährigen Afroamerikaner Teddy Underhill handelt, der im Mai von seiner Mutter als vermisst gemeldet wurde. Er soll weggelaufen sein, als sein Stiefvater schlief. Doch warum hat die Familie zwei Wochen mit der Vermisstenmeldung gewartet?
Der Gerichtsmediziner stellt bei dem Jungen ein halbes Dutzend unbehandelter Knochenbrüche fest und einen gewaltsamen Tod durch massive Gewaltanwendung. Dass der Kleine daheim misshandelt wurde, wussten die Angehörigen, die Nachbarn und das Jugendamt. Was immer getan wurde, um ihm zu helfen, war nicht genug.
Staatsanwältin Louise Wilson Bost erhebt Anklage gegen Teddys Mutter und den Stiefvater. Doch der hat ziemlich rabiate Freunde, und so sehen sich die Zeugen der Anklage bald Drohungen und Angriffen ausgesetzt. Madelines merkwürdiger Verkehrsunfall fällt mit Sicherheit auch unter diese Rubrik.
In all dem Schlammassel kann ihr Mann Dean ihr nicht beistehen. Der Ingenieur arbeitet jetzt für einen Schweizer Maschinenbauer und ist ständig unterwegs. Madeline selbst hat den Kontakt hergestellt. Der Geschäftsführer der Firma ist mit ihrer Collegefreundin Astrid verheiratet. Die Seelenverwandte aus Teenagerzeiten war schon immer exaltiert, aber jetzt scheint sie völlig durchzudrehen und nervt Madeline Tag und Nacht mit hysterischen Anrufen und irrationalen Aktionen. So sehr Madeline ihrem Mann die Karriere gönnt – sie hätte ihn jetzt lieber in ihrer Nähe und bereut es, Astrid wieder über den Weg gelaufen zu sein.
Zu allem Überfluss rückt Madelines Schwester bei einer Diskussion über den ermordeten Teddy mit der Information heraus, dass einer der Stiefväter sie als Kind s e x u e l l missbraucht hat. Madeline war damals zu jung, um die Zeichen deuten zu können. Doch ihre Mutter hat davon gewusst und nichts unternommen. Pagan wurde von den Erwachsenen genauso im Stich gelassen wie Teddy.
„Batman“ habe sie als Kind werden wollen, sagt Madeline einmal zu Detective Skwarecki und erzählt von ihrer Kindheit in Kalifornien der späten 60-er und frühen 70-er Jahre. „Es liefen einfach zu viele böse Stiefväter und psychotische Liebhaber von geistig abwesenden Müttern herum. Ich wollte uns alle retten. Das hatte sich bis heute nicht gehändert.“ (Seite 64) Das erklärt, warum ihr der Fall Teddy Underhill so extrem wichtig ist. Durch nichts auf der Welt will sie sich davon abbringen lassen, als Zeugin vor Gericht auszusagen. Zu viele Verrückte und Perverse sind schon mit Kindesmissbrauch und Misshandlung durchgekommen. Wenigstens in diesem Fall will sie dafür sorgen, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Doch das ist leichter gesagt als getan …
Madeline hat in ihrer Jugend gelernt, dass sie selbst kämpfen muss, wenn sie etwas erreichen will. Dass dies auch mit Diplomatie geht und nicht nur mit dem Holzhammer, ist noch nicht bis zu ihr durchgedrungen. Ihr ruppiger Weg funktioniert für sie, und sie hat kein Problem damit, sich unbeliebt zu machen und in ihrem Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit auch zu drastischen Mitteln zu greifen. Nur so unverwundbar wie die Superhelden der Comics ist sie eben nicht.
Waren die Vorgängerbände manchmal seltsam zweigeteilt in Krimi (Mordfall) und Roman (Madelines Leben), greifen die beiden Elemente hier besser ineinander. Der Kriminalfall, in den Madeline zufällig verwickelt wird, spiegelt ihre eigene Jugend wider. Ein klassischer Krimi ist es dennoch nicht – eher ein packender Roman mit starken Gerichtskrimi-Elementen, düster und so nah an der Realität, dass man Madelines Wut und Verzweiflung vollkommen nachempfinden kann.
Madeline Dare ist eine unkonventionelle, beschädigte Heldin, die mit ihrem Tun oftmals übers Ziel hinausschießt. Wegen ihres unflätigen Mundwerks gibt es aber auch viel zu lachen. Wenn sie uns den Unterschied zwischen „f*ck-me“-Schuhen und „f*ck-you“-Schuhen erklärt, wenn sie Menschen, die sich ungehörig benehmen, in aller Deutlichkeit die Meinung geigt oder bei einem Geschäftsessen zu politisieren anfängt und total aus der Rolle fällt, ist das für den Leser sehr vergnüglich. So etwas sollte man sich mal trauen!
In den USA ist bereits ein vierter Madeline-Dare-Band erschienen. Es wird interessant zu sehen, wie es mit ihr und ihrer Familie weitergeht. Wo und wovon werden sie ein, zwei Jahren leben? Und werden sie je irgendwo ankommen?
Die Autorin
Cornelia Read wuchs in New York, Kalifornien und Hawaii auf. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Zwillingstöchtern in Berkeley/Kalifornien. DER JUNGE, DEN NIEMAND SAH ist der dritte Roman der Autorin.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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