Juliane Zimmermann: Der Teufel steckt im ICE. Die abgefahrensten Erlebnisse einer Zugbegleiterin. Köln 2014, Bastei Lübbe AG, ISBN 978-3-404-60817-1, Klappenbroschur, 237 Seiten, Format: 12,8 x 2,5 x 18,5 cm, Buch: E 8,99 (D), EUR 9,30 (A), Kindle Edition: EUR 6,99.

„Liebe Fahrgäste, auf den Schienen vor uns befinden sich Schafe, die uns noch eine Weile an der Weiterfahrt hindern werden. Oder ist zufällig ein Schäfer an Bord?“ (Seite 82)
Zugbegleiter/in gehört vermutlich nicht zu den Jobs, die man bei der Berufswahl spontan auf dem Schirm hat. Auch Juliane Zimmermann ist da eher zufällig gelandet. Eigentlich ist sie Hotelfachfrau, doch als allein erziehende Mutter kann sie diesen Beruf nicht mehr ausüben. Für eine Vollzeitstelle mit Teildiensten und Schichtarbeit findet sie keine Kinderbetreuung. Die Hilfsbereitschaft ihres nicht mehr berufstätigen Vaters will sie nicht über Gebühr strapazieren. Er kümmert sich zwar gerne um den kleinen Felix, aber Juliane will ihn nicht in seinem verdienten Vorruhestand zum allein erziehenden Opa machen.
Ihre Freundin Marie „Söckchen“ Sock ist Zugchefin bei der Bahn und schlägt ihr einen Teilzeitjob als Zugbegleiterin vor. Weil Juliane bereits eine Ausbildung im Servicebereich hat, würde ein mehrwöchiger Umschulungslehrgang genügen und sie könnte loslegen – an zwei oder drei Tagen die Woche. Noch ist Juliane skeptisch. Dass Zugbegleiterin „der coolste Job der Welt“ sein soll, wie Marie behauptet, kann sie nicht so recht glauben.
„Also ehrlich, Marie. Das kannst du deiner Oma erzählen!“
„Wollen wir wetten?“ (Seite 29)
Auch wenn sie noch Zweifel hat und Papa die Nase rümpft, weil das Kind Schaffnerin werden will – Juliane hat keine bessere Idee und bewirbt sich. Die Jungs von der Bahn sind zunächst nicht begeistert. Igitt, eine allein erziehende Mutter! Haarklein muss die Bewerberin aufdröseln, wie sich ihre Kinderbetreuung in allen erdenklichen Notsituationen gestalten soll, ehe sie ihre Chance bekommt.
Nach der sechswöchigen Ausbildung und einer kurzen Einarbeitungsphase durch eine erfahrene Kollegin wird es für Juliane ernst. Jetzt ist sie für Service und Kontrolle in ihrem Bereich des Zuges alleine zuständig und muss auch in Notfällen und bei Streitigkeiten einen kühlen Kopf bewahren.
Sie trifft auf Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen auf ihre Hilfe angewiesen sind … auf Leute, die ungehemmt pampig werden und sie für die Fehler des Konzerns verantwortlich machen … auf fröhlich feiernde und auf entsetzlich nervende Zeitgenossen. Und es ist auch der eine oder andere Fahrgast dabei, der wirklich nicht ganz zurechnungsfähig ist. Was macht man mit einem, der pudelnackt in einem Abteil sitzt und behauptet, Jesus Christus zu sein und deshalb keine Fahrkarte zu benötigen? Der titelgebende Teufel ist auch so ein Kandidat: Ein Psychiatriepatient, der sich für den Leibhaftigen hält und ebenfalls keinen Fahrschein hat. Dieser würde dem Höllenfürsten ja schließlich zwischen den Fingern verbrennen, genau wie Geld. Ist doch logisch, oder? Tja, bei solchen Passagieren ist guter Rat teuer! Zwischen den beiden Vorfällen liegen Jahre, aber als Leser kann man nicht umhin, sich vorzustellen, was wohl passiert wäre, wenn man „Jesus“ und den „Teufel“ bis zum nächsten Halt zusammen in ein Abteil gesperrt hätte.
Es gibt große und kleine Pannen, Bombendrohungen und Panik wegen herrenloser Gepäckstücke und sonderbarer Artefakte. Und den Albtraum aller Lokführer und Bahnreisenden gibt es leider auch: den Personenschaden. Wie furchtbar das für den Fahrer sein muss, der das Unglück kommen sieht aber nicht verhindern kann, kann man sich nur ansatzweise vorstellen.
Das ist das Leben. Aber die romantischen und menschlich-sympathischen Geschichten liest man doch deutlich lieber. Tragisch aber wunderschön ist die Geschichte des abgerissenen Flaschensammlers Dimitiri, dem Juliane immer wieder auf derselben Strecke begegnet. Man mag fast an Schicksal glauben, als er auf einer seiner Fahrten mit der flotten Mittfünfzigerin Elvira ins Gespräch kommt.
Ein junger Mann will die Leuchtschriftanzeige im Zug für einen Heiratsantrag nutzen. Und auch Juliane trifft auf ihren Fahrten einen netten Mann, mit dem sie bald mehr verbindet als nur Sympathie: Hannes, den Polizisten mit dem traurigen Blick.
Felix akzeptiert Hannes schnell als einen väterlichen Freund. Seinen leiblichen Vater hat er nie kennen gelernt. Der hat zwar brav Unterhalt gezahlt, wollte aber keinerlei Kontakt zu seinem Kind. Und erzwingen kann man das ja nicht. Die Nachricht, dass er eine ältere Halbschwester in Süddeutschland hat, die ihn gerne treffen würde, verunsichert den Jungen zunächst. Mit Mutter, Opa und Hannes hat er alles an Familie, was er braucht. Auch die Erwachsenen sind unsicher, ob sie Felix den Umgang mit der väterlichen Familie erlauben sollen. Das könnte in einer Enttäuschung enden. Nach einem ereignisreichen Trip nach München sind alle Beteiligten schlauer …
Die Bahn verbindet Menschen – manchmal für ein ganzes Leben. Julianes Freundin und Kollegin Marie heiratet in einer standesgemäßen Zeremonie ihren Lokführer, und irgendwie hat man das Gefühl, jetzt wäre so langsam mal Juliane an der Reihe. Doch so eine offensive Demonstration seiner Gefühle ist wohl nicht die Sache ihres Polizisten.
Ich hätte noch tagelang in den Geschichten und Anekdoten der engagierten Zugbegleiterin schwelgen können. In diesem Buch steckt das ganze Leben: Liebe und Tod, Hoffnung und Enttäuschung, Witz und Drama, Einsamkeit und Erlösung, Freundschaft und Familie, Notlagen und rettende Engel, gute Leute und blöde Leute … wie es eben so ist. Und weil die Begegnungen im Zug eben nur kurz sind, wird das meiste auch in kurzen Episoden erzählt. Ideal für LeserInnen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne oder solche, die nur häppchenweise Lesezeit erübrigen können … zum Beispiel morgens und abends in der Bahn. Trotzdem ist es keine reine Kurzgeschichtensammlung. Julianes Familienleben und ein paar „Stammgast-Geschichten“ bilden eine Art Rahmenhandlung und halten die Zugbegleiter-Erlebnisse zusammen.
Auch wenn die Autorin den Berufsalltag nicht beschönigt, frage ich mich, ob die Anzahl der Bewerbungen für die Zugbegleiter-Ausbildung spürbar gestiegen ist, seit das Buch auf dem Markt ist. Man ist direkt geneigt, Maries Aussage vom Anfang der Geschichte für bare Münze zu nehmen: „Zugbegleiterin, das ist der coolste Job der Welt!“.
Edith Nebel
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