Ben Aaronovitch: Fingerhut-Sommer – Roman

Ben Aaronovitch: Fingerhut-Sommer, OT: Foxglove Summer, aus dem Englischen von Christine Blum, München 2015, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-342 321602-9, Softcover, 413 Seiten, Format: 12,1 x 3 x 19,3 cm, Buch: EUR 9,95 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 7,99.

Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Abbildung: (c) dtv Deutscher Taschenbuch Verlag

„Sie sind PC Peter Grant“, entgegnete sie. „Ich hab über Sie recherchiert. Sie sind bei der Einheit Spezielle Analysen – dem Akte-X-Team der Met. Ich hab gehört, Sie befassen sich mit Geistern und Außerirdischen und übersinnlich Begabten …“ (Seite 361) – Journalistin Sharon Price fasst hier, in Peter Grants fünftem Abenteuer, ganz gut zusammen, was seine Aufgaben sind. Dass er selbst auch zu allerhand magischem Tun in der Lage ist, weiß sie nicht. Gut, im Vergleich zu seinem Chef, Detective Chief Inspector und Magier Thomas Nightingale, ist er wirklich nur ein kleiner Zauberlehrling. Aber Nightingale hat ja auch ein paar Jahrhunderte mehr Zeit zum Üben gehabt.

Zauberlehrling Grant ermittelt auf dem Lande


Normalerweise ist Peter Grant ja in London stationiert und wohnt zusammen mit Nightingale, der nicht ganz menschlichen Haushälterin Molly und Terrier Toby im „Folly“, der offiziellen Residenz der englischen Magie seit 1775. Doch jetzt hat man den eingefleischten Städter an das Polizeirevier in Leominster/Nord-Herefordshire ausgeliehen. In dem kleinen Ort Rushpool sind zwei elfjährige Mädchen verschwunden. Die zwei Freundinnen haben sich nachts angekleidet, sind aus dem Haus gegangen und wurden seither nicht mehr gesehen. Ihre Handys hat man anderntags am Straßenrand gefunden, mehr als einen Kilometer von ihrem Wohnort entfernt.

Magie hat die Mobiltelefone der Mädchen zerstört, wie Peter schnell herausfindet. Es wäre ihm viel lieber, wenn das Verschwinden der Kinder keine übernatürlichen Ursachen hätte, denn dann dürfte er umgehend nach London zurückkehren. Das Landleben ist ihm unheimlich.

Damit auch jemand vor Ort ist, der weiß, wo bei einer Kuh vorn und hinten ist, schickt Nightingale Peters Freundin, die Flussgöttin Beverly Brook, als Polizeiberaterin nach Rushpool. Nicht nur ihr Fachgebiet erweckt den Argwohn der Landbevölkerung. Peter und Bev sind auch die einzigen dunkelhäutigen Menschen (?) in dieser rein weißen Umgebung.

Waren’s die Aliens, die Tinker oder die Fae?


Was also steckt hinter dem Verschwinden von Hannah Marstowe und Nicole Lacey? Waren es die Aliens, wie Nicoles Halbschwester Zoe glaubt? Oder hat das fahrende Volk die Mädchen gekidnappt, wie die Klatschpresse tönt? Samantha, die reichlich verwirrte Jugendfreundin des Dorfpolizisten DC Dominic Croft, verdächtigt ja unsichtbare Ponys. Als bekannt wird, dass auch die verschwundenen Mädchen von solchen Tieren erzählt haben, wird Peter Grant hellhörig. Seine Nachforschungen ergeben, dass es sich um Einhörner handelt. Und wo die sind, sind meist die Fae (Elfen) nicht weit.

Haben die Fae die Mädchen entführt? Wird das so eine Wechselbalg-Geschichte? Auch der ortsansässige Magier im Ruhestand, Hugh Oswald, und seine seltsame Enkelin Mellissa können sich keinen Reim auf das Geschehen machen. Als Imker haben sie lediglich beobachtet, dass ihre Bienen ein bestimmtes Gebiet im Wald meiden – die Gegend, in der die Handys der beiden Mädchen zerstört worden sind. Eine nächtliche Expedition in die Region beschert der Polizei eine dramatische Begegnung und eine überraschende Entdeckung. Danach wird es erst richtig mysteriös …

Ein bisschen flügellahm …


Hm, also, wenn Peter Grant in den vorigen Bänden in magischen Kriminalfällen ermittelt hat, war deutlich mehr los. Dieser Vermisstenfall auf dem Lande ist ein bisschen flügellahm. Liegt es daran, dass Peter und Bev die übernatürliche Handlung diesmal fast alleine tragen müssen und die üblichen Nebenfiguren – Thomas Nightingale, Molly, Toby, Dr. Walid, Peters Eltern und Verwandte sowie diverse Flussgottheiten und anderes magisches Volk – nur am Rande vorkommen? Oder daran, dass es keinen richtigen Antagonisten gibt, sondern nur einen gewöhnlichen Kriminalfall mit Spuren von Magie? Nicht einmal am Schluss wird so recht klar, was das ganze soll … was genau das Motiv der Verantwortlichen gewesen ist.

Die Suche nach dem abtrünnigen und kriminellen gesichtslosen Magier, die vier Bände lang der Antrieb der Serie war, spielt hier auf einmal gar keine Rolle mehr. Nur Ex-Polizistin Lesley May, die sich vom Gesichtslosen Hilfe nach einem magischen Unfall erhofft und deshalb die Seiten gewechselt hat, schickt ab und zu eine merkwürdige Nachricht auf Peters Smartphone. Die Handlung ist einfach ein bisschen mager.

Manchmal überfordert mich der Autor auch mit seinen exakten Beschreibungen von allem und jedem. Muss ich mir wirklich die Mühe machen, mir die geographischen Gegebenheiten des Handlungsorts genau vorzustellen, wo das doch für die Geschichte selbst gar keine große Bedeutung hat? Und warum wird das Aussehen einer jeden Nebenfigur genauestens beschreiben, bis hin zum Haarschnitt und zur Farbe der Brillenkette, wenn diese Figur doch nur in einer einzigen Szene vorkommt?

Fade Handlung, schräge Szenen, freche Sprüche


Es gibt schon ein paar herrlich schräge Szenen in dem Buch – die frühmorgendliche Heimkehr von Peter und Bev von einem Ausflug an, oder genauer gesagt: in den Fluss, zum Beispiel. Und ein paar herrlich fiese Sprüche hat’s auch:
„Ist deine Arbeit immer so ungenau?“, wollte Beverly wissen.
„Nein. Manchmal wissen wir ganz genau, dass wir keine Ahnung haben.“ (Seite 348)
***
„Schwer vorstellbar, dass [er] einmal etwas mit einer Fae gehabt haben sollte, ohne etwas Außergewöhnliches zu bemerken – aber vielleicht hatte die Mutter seines Kindes ja wie eine Touristin oder womöglich wie ein besonders attraktives Schaf ausgesehen.“ (Seite 366)

FINGERHUT-SOMMER ist ein bisschen wie eine Sommerloch-Folge einer Fernsehserie: Ein ganz nettes Abenteuer mit bekannten Figuren, aber für den Fortgang der Reihe nicht von überragender Wichtigkeit.

Falls es einen Band 6 gibt, was ich doch hoffe, sollte es darin bitte wieder um die Jagd auf und die Enttarnung des gesichtslosen Magiers gehen. Und irgendwie warte ich immer noch darauf, dass Lesleys entstelltes Gesicht auf magische Weise wiederhergestellt wird.

Der Autor
Ben Aaronovitch wurde in London geboren und lebt auch heute noch dort. Wenn er gerade keine Romane oder Fernsehdrehbücher schreibt (er hat u. a. Drehbücher zu der englischen TV-Kultserie ‚Doctor Who‘ verfasst), arbeitet er als Buchhändler.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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