Leonhard F. Seidl: Viecher. Kriminalroman

Leonhard F. Seidl: Viecher. Kriminalroman, Köln 2015, Emons Verlag, ISBN 978-3954517251, Softcover, 256 Seiten, Format: 13,6 x 2,2 x 20,5 cm, Buch: EUR 9,90 (D), EUR 10,20 (A), Kindle Edition: EUR 8,49.

Abbildung: (c) Emons Verlag
Abbildung: (c) Emons Verlag

Der Schlamassel anderer Leute ist sein Geschäft: Freddie Deichsler, schätzungsweise Ende 30 und seit ein paar Jahren in Nürnberg ansässig, ist Privatdetektiv. Das heißt, eigentlich ist er in Elternzeit und kümmert sich um seinen zweijährigen Sohn David, während seine Frau, die ehrgeizige Bankerin Monika, für das Familieneinkommen sorgt.

Zu dem Fall, der ihm aktuell angetragen wird, kann er aber nicht sein sagen, denn er führt ihn in seine alte Heimat, ins Isental bei Dorfen, östlich von München. Genau genommen sind’s zwei Fälle. Die Bäuerin Kristel Luidinger glaubt nicht, dass ihr Mann Ignaz vom Zuchtstier auf die Hörner genommen worden ist. Sie hält seinen Tod für Mord. Einen Verdächtigen hat sie auch parat: Den Rinninger-Bauern. „ (…) der is scharf auf den Hof, damit bei ihm der Golfplatz g’baut werden kann und er seine Ruh hat. Der war in letzter Zeit öfter bei uns.“ (Seite 15) Allein kann die Kristel den Hof nicht halten. Jetzt wird sie verkaufen müssen.

Freddie sucht einen Mörder – und seinen Sohn


Das ist er eine Fall. Der zweite ist noch näher an Zuhause: Paul Hinrichs, Freddies Sohn mit seiner Jugendliebe Steffi, ist verschwunden. Paul und Freddie sind einander noch nie begegnet, und jetzt soll der Vater den Sohn suchen.

Hier rächt es sich, dass ich den Vorgängerband GENAGELT, Freddies erstes Krimi-Abenteuer, nicht kenne. So kann ich mir nur zusammenreimen, dass sich er seinerzeit, kaum dass er von Steffis Schwangerschaft erfahren hatte, ins Ausland abgesetzt hat und erst vor ein paar Jahren wieder zurückgekommen ist. Dann muss er dann mit Monika zusammengekommen sein. Von Kenia ist ab und zu die Rede. Ob Freddie all die Jahre dort war und was er da getrieben hat, kann ich nicht sagen. Ob er jemals Unterhalt für Paul gezahlt hat, auch nicht. Jedenfalls sind Steffi und Paul überhaupt nicht gut auf ihn zu sprechen.

Als sich herausstellt, dass Paul, ein radikaler Tierschützer, in der Nacht von Ignaz‘ Tod, auf dem Luidinger-Hof war und nun untergetaucht ist, werden aus Freddies zwei Fällen einer. Und als Kristels Nachbarhof brennt und Vater und Sohn dort zum ersten Mal aufeinandertreffen, wird es noch komplizierter: Nun steht Freddie unter Verdacht, den Hof angezündet zu haben, warum auch immer, und muss selber flüchten. Während die Polizei ihn sucht, sucht er seinen flüchtigen Sohn und den Mörder von Ignaz Luidinger. Das Paul dessen Vieh freigelassen hat, glaubt Freddie sofort. Dass er den Brand gelegt hat, hält er für denkbar. Dass er den Landwirt getötet hat, glaubt er keine Sekunde.

Die Spur führt nach Tunesien


Bis nach Tunesien führt diese multiple Verfolgungsjagd. Bis dorthin zieht die Schweinerei um Immobilien, Subventionsbetrug, Erpressung, Nötigung und Mord ihre Kreise. Natürlich geht’s dabei um sehr viel Geld. Und natürlich hängen auch ein paar Großkopferte ganz dick mit drin.

Während der kleine David bei den Großeltern geparkt wurde, Monika Deichsler bei ihren Eltern in Fürth ist und die Polizei gegen Freddie und Paul ermittelt, schlittern Vater und Sohn von einer skurrilen Situation und Katastrophe in die nächste. Besonders übel ergeht es Freddie. Er erleidet eine Rauchvergiftung und einen Autounfall, muss sich in einem Misthaufen verstecken, bei Minusgraden im Wohnmobil hausen, ein Auto klauen, tagelang in geliehenen und verdreckten Klamotten herumlaufen und ein ums andere Mal eine falsche Identität annehmen. Besonders dreist: bei seinen Recherchen gibt er sich sogar als (sein) Autor Leonhard F. Seidl aus. Sowas hat sich bisher noch kein Romandetektiv getraut. 😉 Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.

Freddies einzige Stütze in diesen Zeiten des Chaos ist Annamirl Opp, die er während seines letzten Falls kennengelernt haben muss. Sie verfügt über die nötigen Mittel, um ihn mit Handy, Auto, Unterschlupf und juristischem Beistand zu versorgen. Nur ihr Mann sollte nichts davon wissen.

Wird Freddie sich von dem Brandstiftungsverdacht reinwaschen können? Kann er die Unschuld seines Sohns beweisen? Wird er ihn überhaupt finden und es schaffen, dass er mit ihm spricht? Last not least: Wer ist wirklich verantwortlich für den Tod von Ignaz Luidinger?

Politintrigen und Vetternwirtschaft


Es ist schon einiges los in dem Krimi: es geht um diverse Straftaten, Tierschutz, einen Golfplatz, eine Autobahn, eine Startbahn, diverse Familienprobleme, Politintrigen und Vetternwirtschaft – und überall gibt’s Sieger und Verlierer.

Man muss schon genau aufpassen und bei der Sache bleiben, um nichts zu verpassen. Sonst sitzt man auf einmal da und fragt sich: Wie ist jetzt der Freddie im Bademantel auf diese komische, ähem, Party gekommen? Und wer ist „AK“, der ihm eine wichtige Nachricht zuspielt? Der Tierarzt Kempken heißt doch mit Vornamen … Moment … Steffen. Und Annamirls Nachname ist Opp. Hm.

Manches bleibt offen, vielleicht auch nur für denjenigen, der GENAGELT nicht gelesen hat. Wie wird ein Polizistensohn vom Land zu einem vegan lebenden Privatschnüffler? Warum wundert ihn, wie es in der Viehhaltung und Milchwirtschaft zugeht? Das Prinzip war doch nie anders. Woher rührt seine Wasserphobie? Und warum drückt er sich in zwei Dritteln der Geschichte darum, seine Ehefrau anzurufen? So besonders scheint die Ehe ja nicht zu laufen.

Nein, ein Superheld oder Siegertyp ist Freddie Deichsler wahrlich nicht. Es schaut so aus, als habe er noch im Leben einen Plan gehabt. Es passiert etwas, und er reagiert irgendwie darauf. Annamirl sieht das schon richtig: „Du bist wirklich wie die Fliegen. Immer beim Sch**ßdreck.“ (Seite 101)

Wo hat Freddie sich jetzt wieder reingeritten?


Freddies Fälle sind auf komplexe Weise miteinander verflochten. Er hat ganz schön was am Hals, und als Leser leidet man ständig mit ihm mit: Wo hat er sich denn jetzt wieder reingeritten? Und wie kommt er da nur wieder raus?

Ich schätze es, wenn Regionalkrimis nicht nur platte Unterhaltung sind, sondern auch etwas zu sagen haben. Hier war’s mir fast schon zu viel Politik: Wie kommt jetzt auf einmal die Autobahn und die Startbahn ins Spiel? Ging es nicht gerade eben noch um Golfplätze, Tierschutz und Rindviecher? Das mag daran liegen, dass ich nicht aus der beschriebenen Region stamme. Würde man einen Roman über Vetternwirtschaft bei uns im Raum Stuttgart schreiben, käme man wohl, egal was das Hauptthema wäre, an „Stuttgart 21“ auch nicht vorbei.

Herrlich sind die Dialoge! Man „hört“ deutlich, wo die Geschichte spielt. Den Personen rutscht manch eine mundartliche Formulierung heraus. Insbesondere Deichslers Gespräch mit der alten Bäuerin aus Bockhorn und seine Unterhaltung mit dem maulfaulen Azubi vom Landratsamt sind der Brüller. Als hätte jemand ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen!

Verbrechen, Amigos und Filz gibt es noch jede Menge – und damit auch Stoff für weitere Freddie-Deichsler-Fälle. Ob Autor und Verlag hier eine länger laufende Serie planen, wird sich zeigen.

Der Autor
Leonhard F. Seidl, geboren 1976, ist in Isen/Oberbayern aufgewachsen. Er hat Krankenpfleger gelernt und Soziale Arbeit studiert. Für seine 2007 preisgekrönte Diplomarbeit hat er sechs Monate lang in der Jugendvollzugsanstalt Ebrach mit jugendlichen Strafgefangenen in einer Schreibwerkstatt zusammengearbeitet. Sein Debütroman MUTTERKORN wurde für den Förderpreis zum August-Graf-von-Platen-Literaturpreis nominiert. Mittlerweile arbeitet Seidl als Dozent für Kreatives Schreiben, Biograf und Krimiautor. 2015/ 2016 ist er Stipendiat des Literaturhauses München, des Literaturforums im Brecht-Haus sowie Writer in Residence in der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte, Meran.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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