Christiane Höhmann: Der stille Zeuge, Dortmund 2016, Grafit-Verlag, ISBN 978-3-89425-479-7, Softcover, 249 Seiten, Format: 11,6 x 2,5 x 19 cm, Buch: EUR 11,-, Kindle Edition: EUR 9,99.
Kriminalkommissarin Anne Schall mag nach langer Krankheit frühpensioniert sein und die Hälfte des Jahres in einer einsamen Hütte im Uffelner Wald wohnen – ihren Spürsinn hat sie noch nicht verloren. Seit 10 Jahren mindestens kennt sie den verwitweten türkischen Gemüsehändler „Paul“ Yilmaz, und in all den Jahren hat er nie Kontakt zu seiner Tochter Selina und deren Familie gehabt. Auf einmal wohnt Pauls zwölfjähriger Enkel Mats bei ihm. Von dessen Eltern keine Spur.
Mats (12) spricht nicht mehr. Warum?
„Paul“, dessen wirklichen Vornamen Anne längst vergessen hat, spricht generell nicht viel. Sein Enkel toppt ihn diesbezüglich noch: Er ist komplett stumm. Das war aber nicht immer so. Annes Sohn Niklas, der nach einigen persönlichen und beruflichen Irrwegen gerade dabei ist, in Bielefeld eine Praxis für Logopädie zu eröffnen, nennt dieses Phänomen „Mutismus“. Durch einen Schock könne das ausgelöst werden, erklärt er seiner Mutter. Was hat der Junge nur erlebt? Gewalt? Krankheit? Tod eines nahestehenden Menschen? Verlust?
Anne recherchiert und findet heraus, was sich der Leser schon bruchstückhaft aus Mats’ Gedanken und Erinnerungen zusammengereimt hat: Er ist der Junge, dessen Schicksal gerade durch die Medien ging: Seine Mutter hat absichtlich einen Autounfall verursacht und versucht, ihn und sich zu töten. Beide sind leicht verletzt davongekommen. Mutter Selina kam in die Psychiatrie, Mats zu seinem Opa.
Leiche im Keller?
Wo Mats’ Vater ist, weiß niemand. Okay … fast niemand. Selina und Mats denken, sie hätten eine Leiche im Keller. Und als Mats sein Fahrrad aus dem Elternhaus holen will, trifft ihn fast der Schlag, als er den angeblich toten Vater dort bewusstlos und fiebernd vorfindet. Mehr schlecht als recht versorgt der Junge den Schwerverletzten.
Als Leser fragt man sich, warum Mats keine Hilfe holt. Er ist ja nur stumm und nicht intellektuell eingeschränkt. Nach und nach erfahren wir, dass er in der strengen und weltabgewandten Sekte der Lichtjünger aufgewachsen ist und sich am gesundheitlichen Zustand seines Vaters die Schuld gibt. Vielleicht weiß er wirklich nicht, wen er alarmieren könnte. Vielleicht hat er aber auch Angst, sich selbst oder einen Angehörigen zu belasten, wenn er sich jemandem anvertraut.
Während Logopäde Niklas versucht, an Mats heranzukommen und Anne Schall sich als angebliche Interessentin bei den Lichtjüngern einschleust, gelingt es dem Schwerverletzten, sich aus dem Keller zu befreien, nur um von einem Auto überfahren zu werden. Unter Verdacht: Seine Frau Selina, die kurz davor aus der Psychiatrie entlassen worden ist. Sie wird verhaftet. Das ist zu viel für Paul Yilmaz. Er, der seit Ewigkeiten nicht mehr hinterm Steuer saß, nimmt die Schuld auf sich und erzählt der Polizei, er habe seinen Schwiegersohn überfahren. Ein durchsichtiges Manöver, mit dem er auch nicht weit kommt.
Selinas Verteidiger verzweifelt
Warum nur sagt Selina Kasten rein gar nichts zu ihrer Verteidigung? Ihr Anwalt, Dr. Gerd Lüneburg, verzweifelt fast. Wenn Mats nur reden würde! Er weiß doch sicher, was zwischen seinen Eltern vorgefallen ist und was wirklich bei dem Autounfall geschah. Er könnte noch viel mehr erzählen … über die skandalösen Zuständen bei den Lichtjüngern, zum Beispiel. Aber Mats schweigt. Wenn Anne seiner Familie und ihm helfen will, muss sie alle Antworten selbst finden.
Was zunächst aussieht, als würde es sich zu einem dieser unappetitlichen Ekelthriller entwickeln, weil’s der arme Bub bei der Versorgung des fiebernden Vaters mit diversen Körperflüssigkeiten und –ausscheidungen zu tun bekommt, entpuppt sich zum Glück als packender Psychokrimi: Wer gewinnt die Oberhand: der manipulative „Heilige Führer“ der Lichtjünger-Sekte oder Polizei und Justiz? Was hat einen stärkeren Einfluss auf Mats: die Programmierung durch die Sekte oder sein Vertrauen zu Niklas Schall? Und hat Opa Paul eigentlich einen Plan oder nur Dusel?
Ein Puzzle, dem wichtige Teile fehlen
Dadurch, dass wir Leser sowohl Mats Gedanken kennen als auch Annes Ermittlungen und Niklas Erkenntnisse, tappen wir nicht vollkommen im Dunkeln. Wir haben eine Menge Puzzleteile und eine vage Ahnung davon, welches Bild sich daraus ergeben könnte. Wirklich komplettieren können wir das Puzzle aber nicht, weil immer noch zentrale Teile fehlen. Die Lösung des Falls scheint greifbar nahe zu sein, gleitet einem aber immer wieder durch die Finger – bis zum Schluss.
Beängstigender noch als alle Gewalttaten sind das Gedankengut und das Vorgehen der Sekte. Die Lichtjünger mögen erfunden sein, aber das, was Anne zum Sektenunwesen recherchiert, ist real. Und es ist zum Fürchten.
Schön sind die Beobachtungen, die die Autorin ihre Heldin machen lässt:
„Anne sah ihren Sohn von der Seite an. Wenn man ihn nicht so lange kannte, erblickte man einen kräftigen Mann, kurz vor seinen mittleren Jahren, dem bereits die Haare ausgingen. Keinen unberechenbaren, schlaksigen Jungen, der zu langsam erwachsen wurde.“ (Seite 161) –
„Im dunkelblauen Jogginganzug sah der Anwalt etwas gewöhnungsbedürftig aus, gleichzeitig so ordentlich, dass man sich darüber wundern wollte, dass die Jogginghose keine Bügelfalten hatte.“ (Seite 177)
Schön gesagt. Das kann man sich gut vorstellen.
Eine erfreulich normale Heldin
Anne Schall ist eine erfreulich normale Heldin mit introvertierten Zügen. Lebensqualität bedeutet für sie, in der Natur zu sein, in Ruhe gelassen zu werden und immer etwas Interessantes zum Lesen zu haben. Mit dem Spirituellen hat sie’s nicht so, das ist für sie alles Bullsh*t. Den „Heiligen Führer“ nennt sie insgeheim wegen seines durchaus ehrenwehrten Engagements für den Umweltschutz den „Heiligen Putzmann“. Die Frau ist sympathisch in ihrer sachlich-nüchternen Art und es tut einem leid, dass sie gesundheitlich so angeschlagen ist.
Dass es bereits drei Krimis mit dieser Ermittlerin gibt, habe ich erst im Nachhinein erfahren. Mir ist beim Lesen nicht aufgefallen, dass es sich um einen Band aus einer Reihe handelt. Man kann DER STILLE ZEUGE sehr gut als Einzelband lesen. Man kann ihn aber auch als Einstieg in die Anne-Schall-Reihe nehmen.
Die Autorin
Christiane Höhmann arbeitete nach ihrem Germanistik- und Anglistikstudium fünfundzwanzig Jahre lang als Gymnasiallehrerin. Sie hat Sachbücher, Kurzgeschichten, Essays und Romane veröffentlicht und erhielt 2007 den „Akademiepreis Wolfenbüttel“ in der Sparte Literatur. Heute ist sie als Autorin, Dozentin und Coach in Paderborn tätig. www.christiane-hoehmann.de
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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