Dieter Aurass: Frankfurter Kaddisch – Kriminalroman

Dieter Aurass: Frankfurter Kaddisch – Kriminalroman, Meßkirch 2016, Gmeiner Verlag, ISBN 978-3-8392-1959-1, Softcover 343 Seiten, Format: 12,1 x 3 x 19,8 cm, Buch: EUR 11,99 (D), EUR 12,40 (A), Kindle Edition: EUR: 9,99.

Abbildung: (c) Gmeiner Verlag
Abbildung: (c) Gmeiner Verlag

Drei Mordkommissionen gibt’s im Polizeipräsidium Frankfurt. Wenn Kriminaldirektor Lohmeyer explizit die MK2 auf einen Fall ansetzen will, muss es dafür einen besonderen Grund geben. Denn ohne Not wird er nicht das Wort an Hauptkommissar Gregor Mandelbaum richten, der mit 29 Jahren der jüngste MK-Leiter aller Zeiten ist.

Kommissar Mandelbaum: hochbegabt und unbeliebt


Lohmeyer hält Mandelbaum für einen arroganten Schnösel, lässt dabei aber außer Acht, dass dieser nicht nur hochbegabt ist, sondern aufgrund des Asperger-Syndroms die Welt etwas anders wahrnimmt als die Mehrheit. Er ist nicht imstande, intuitiv nichtsprachliche Signale und damit die Gefühlsregungen seiner Mitmenschen zu erfassen, weshalb die Kommunikation mit ihm etwas gewöhnungsbedürftig ist. Was er sagt, kommt oft ruppig und ungelenk rüber oder ist der Situation nicht angemessen.

Wenn man mal begriffen hat, woran das liegt, ist das aber kein großes Thema. Man muss den Kollegen ja nicht lieben, doch man kann sich an seine Eigenheiten gewöhnen. Nur weiß in Mandelbaums Team niemand Bescheid, und so kommt es zu Irritationen und Animositäten. Kriminalhauptkommissar Dieter Alsmann, 35 Jahre Berufserfahrung, will den merkwürdigen Jungspund nicht als Vorgesetzten akzeptieren, Klaus „Schmuddel“ Braake, der Technikfreak des Teams, kann ihn schlicht nicht leiden, Jenny Jung, 22, schwärmt ihn an, ohne ihn zu verstehen und Jutta „Mutti“ Beltermann, 40, bemüht sich stets um Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Temperamenten. Dieses Team hat Mandelbaum absichtlich genau so zusammengestellt: zwei Männer, zwei Frauen, verschiedene Altersgruppen, ein Visionär, ein Realist und ein Pessimist.

Mysteriöse Todesfälle in der jüdischen Gemeinde


Warum also muss jetzt die MK2 ran, die allgemein als etwas seltsam gilt? Es geht um eine spektakuläre (Selbst?-)Mordserie unter älteren jüdischen Mitbürgern. Und weil auch Mandelbaum jüdischen Glaubens ist, erhofft man sich von ihm Insider-Erkenntnisse. Da sind sie bei ihm aber an der falschen Adresse. Er kann nicht hingehen und den Gemeindemitgliedern bei Klatsch und Tratsch die Infos aus dem Kreuz leiern. Er hat nämlich keinerlei Kontakt zur Gemeinde, ja nicht einmal zur eigenen Verwandtschaft.

Die nichtjüdischen Kollegen kriegen mehr heraus als er. Zum Beispiel die attraktive neue Rechtsmedizinerin Dr. Sonja Savoyen. Die sieht nicht nur aus wie die junge Brigitte Nielsen und bringt die gesamte männliche Kollegenschaft zum Sabbern, sie findet auch heraus, dass die Opfer — Chefredakteur Salomon Kleinstein, die Altenzentrums-Leiterin Ella Löwenstin und der Finanzfachmann Samuel Itzigmann — von jemandem unter Drogen gesetzt wurden, ehe sie aus keinem erkennbaren Grund von einem hohen Gebäude in die Tiefe gesprungen sind. Es gab also einen Fremdeinfluss.

Eine alte Rechnung wird beglichen


Mit diesen drei Herrschaften hatte offenbar noch jemand eine Rechnung offen. Worum es dabei geht, offenbart sich in den eingestreuten Kapiteln, die auf sehr beklemmende Weise ein ungeheuerliches Verbrechen beschreiben, das in den 1930er-Jahren begangen , in den Wirren der Nachkriegszeit erfolgreich vertuscht wurde und bis heute ungesühnt blieb.

Wer der Rächer und sein Handlanger sind, erfährt man schon nach 100 Seiten. Hätte er seinen Namen mal lieber übersetzt statt ihn so zu verstümmeln! Jedem mit ein wenig Sprachgefühl springt die Lösung ins Gesicht, dazu muss er nicht mal jiddisch verstehen. Das Motiv für die Vergeltungsaktion liegt auch glasklar auf der Hand, und so habe ich mich gefragt, was wir jetzt noch 240 Seiten lang machen wollen. Warten, bis auch der Polizei klar wird, was der Leser längst weiß? Irgendwie schon. Aber es ist ein gespanntes Warten, denn die Mandelbaums haben den Mörder in ihrem persönlichen Umfeld und ahnen nicht einmal, dass auch sie auf seiner Liste stehen. Selbst als ihnen so langsam die Zusammenhänge dämmern, sehen sie sich nicht als gefährdet an, denn so unlogisch wie der Mörder können die Geschwister gar nicht denken.

Der Showdown wird dramatisch …

Der Autor weiß, wovon er schreibt


Der Autor war 41 Jahre lang bei der Polizei. Dass er weiß, wovon er spricht, wenn er die Ermittlungsarbeiten schildert, glaube ich ihm aufs Wort. Sehr eindrucksvoll ist auch der Handlungsstrang, der in der Kriegs- und Nachkriegszeit spielt. Ich hätte auch einen ganzen Roman über diesen armen Kerl gelesen. Was für eine Biographie!

Probleme hab ich ein bisschen mit der Hauptfigur und mit der Motivation des Täters. Es scheint modern zu sein, einen Helden mit Verhaltensbesonderheiten zu haben. Betroffene kriegen allerdings Reißzähne, wenn sie im Zusammenhang mit Asperger/Autismus das Wort „Krankheit“ lesen. Es ist eine Normvariante der menschlichen Informationsverarbeitung oder eine Störung. Und sie wollen auch kein Funktionslabel angeklebt bekommen im Sinne von „schwerer“ oder „leichter“ Fall. Das ist eine Wertung Außenstehender.

Warum „braucht“ der Held überhaupt das Asperger-Syndrom? Um die Kommunikation mit ihm „spannender“ zu gestalten? Um einen guten Grund fürs Infodumping zu haben? Wenn Mandelbaum unsicher ist, welche Art Antwort von ihm verlangt wird, verfällt er oft ins Dozieren von Fakten, was die Handlung manchmal weiterbringt.

Der Held ist ein bisschen … problematisch


Alles in allem ist Gregor Mandelbaum aus meiner Sicht ein wenig too much: eine Jugend fast wie Batman/Bruce Wayne, die Statur von Sherlock Holmes, die Intelligenz und das Sozialverhalten von Data oder Mr. Spock, die „Lügen-Detektor“-Fähigkeiten von Dr. Cal Lightman und die Frisur sowie die Ahnungslosigkeit bezüglich der eigenen Familiengeschichte von Jon Snow. Hätten es Hochbegabung und ein bisschen Exzentrik nicht auch getan? Zwingend notwendig für die Story ist lediglich seine jüdische Abstammung.

Und jetzt zum Vergeltungsmotiv: Die Rache wird hier ein bisschen sehr kalt genossen. Wäre diese Mordserie meinetwegen in den 1960er oder 1970er-Jahren passiert, hätte mir das noch eingeleuchtet. Aber heute? Gregor Mandelbaum sieht das übrigens genauso. Er kann auch nicht nachvollziehen, was den Täter antreibt. Aber irrational erscheinende Motive werden in der Realität sicher auch vorkommen, und so will ich das dem Roman nicht ankreiden.

Ist es eigentlich bedenklich, wenn man über weite Strecken des Romans das Gefühl hat, dass Gregor der einzige ist, der hier vernünftig denkt und dass das Restpersonal mehr oder weniger meschugge ist?

Auch wenn hier für meinen Geschmack stellenweise ein wenig zu dick aufgetragen und mir der Drahtzieher ein bisschen zu früh offenbart wurde – ich musste unbedingt wissen, wie’s für die Mandelbaum-Geschwister ausgeht und habe das Buch zwei Tage lang wo ich ging und stand mit mir herumgeschleppt. Spannend ist es.

Der Autor
Dieter Aurass ist Jahrgang 1955 und war über 41 Jahre Polizeibeamter. Geboren und aufgewachsen in Frankfurt/Main, begann er seine Laufbahn unmittelbar nach dem Abitur beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden. In den folgenden 30 Jahren durchlief er dort die Arbeitsbereiche Personenschutz, Terrorismusbekämpfung, Spionageermittlungen und zuletzt Management der Informationstechnologie. Nach 30 Jahren Dienst als Kriminalbeamter wechselte er zur Bundespolizei, zog die Uniform an und war dort fast 11 Jahre im IT-Management tätig. In seiner Freizeit treibt er Sport (Tennis, Joggen und Skifahren), liest sehr viel und widmet sich seiner großen Leidenschaft, dem Schreiben. Er ist seit über 30 Jahren glücklich verheiratet und lebt zusammen mit seiner Frau Ellen und einer Boston-Terrier-Hündin in der Nähe von Koblenz.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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