Jürgen Schäfer: Der Krankheitsermittler. Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten helfen, München 2015, Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-27644-0, Hardcover mit Schutzumschlag, 251 Seiten, Format: 15,4 x 2,7 x 22,9 cm, EUR 19,99. Oder: unter dem Titel „Die Krankheitsermittler“, Softcover, 978-3-426-78844-8, 256 Seiten, Format: 12,5 x 2,2 x 18,8 cm, EUR 9,99. Kindle Edition: EUR 9,99.
„Ein medizinischer Fall ist wie ein Verbrechen, eine ärztliche Diagnose wie das Ergebnis einer Ermittlung. Die Beschwerden und Symptome eines Patienten sind die Indizien, denen der Arzt nachgehen muss, um den Fall aufzuklären. Nur geht es eben nicht darum, einen Täter zu finden, sondern ein Virus, eine Krankheit oder ein Syndrom.“ (Seite 14)
Angefangen hat alles im Jahr 2008 mit einem freiwilligen Seminar für Medizinstudenten. Professor Dr. Jürgen Schäfer nannte es „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt“? Das Ziel war, extrem seltene und komplexe Krankheiten auf unterhaltsame Art und Weise detailliert zu besprechen und die angehenden Ärzte in die Denkstrukturen eines erfahrenen Klinikers einzuführen.
Mit dem „Dr. House“-Seminar fing alles an
Den durchschlagenden Erfolg der Veranstaltung hätte sich Jürgen Schäfer nicht träumen lassen. Die Studierenden waren begeistert und die Medien wurden auf ihn aufmerksam, was zur Folge hatte, dass sich immer mehr verzweifelte Patienten Hilfe suchend an ihn wandten. Als er dann noch für seine Arbeit mit Preisen ausgezeichnet wurde, konnte sich das Uniklinikum in Marburg vor Anfragen nicht mehr retten. Quasi in Notwehr eröffnete man dort das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (ZusE).
Einige der spannendsten Fälle erzählt uns der Autor in diesem Buch. Dabei wurden die persönlichen Daten und die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten so verfremdet, dass man sie nicht wiedererkennen kann. Und ein bisschen dramaturgisch aufgehübscht wurden die Geschichten auch. Was sich die Sekretärin eines Patienten gedacht hat oder welche Probleme der Enkel einer Patientin mal mit seinem Vater hatte, kann der Doktor unmöglich wissen. Es könnte allenfalls so gewesen sein.
Ein bisschen fühlen sich die Fallbeispiele an wie die Einspieler bei der TV-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“: konkrete menschliche Schicksale zum Mitfühlen, weil die reinen Informationen zu „trocken“ und unattraktiv wären. Infotainment, eben. Was vollkommen in Ordnung ist. So bleibt Wissen hängen. Und wer weiß, ob man es nicht vielleicht mal brauchen kann, selbst wenn man ein medizinischer Laie ist.
Fernsehen kann Leben retten
Lesen wird man das Buch, weil man Rätselraten auf medizinischem Sektor spannend findet. Es ist etwas für Leute, die TV-Sendungen wie „Abenteuer Diagnose“, „Dr. G. – Beruf: Gerichtsmedizinerin“ und „Dr. House“ mögen. Und da kann es tatsächlich sein, dass man auch als Nichtmediziner beim Lesen auf die richtige Idee kommt, weil man einen ähnlichen Fall schon aus dem Fernsehen kennt.
„Fernsehen kann Leben retten“, das gibt auch der Autor zu. Im Fall des 54jährigen Oberstudienrats, der – eben noch fit und quietschvergnügt – binnen Monaten zu einem fast blinden, tauben und schwer herzkranken Wrack verfallen ist, erinnert sich Prof. Dr. Schäfer spontan an eine „Dr. House“-Folge, die er mal in seinem Seminar mit den Studierenden besprochen hat. So kommt er innerhalb weniger Minuten auf die richtige Lösung. Und das, nachdem der arme Patient schon eine wahre Ärzte-Odyssee hinter sich gebracht und sich bereits damit abgefunden hatte, bald sterben zu müssen!
Ärzte-Odyssee und Psycho-Schiene
Wie kann es dazu kommen, dass Krankheiten Monate oder Jahre nicht richtig diagnostiziert werden? Machen es sich manche Ärzte zu einfach? Haben sie schlicht nicht die Zeit, sich angemessen um ihre Patienten zu kümmern und nehmen deshalb irgendeine naheliegende Diagnose? Fehlt ihnen das Wissen um die seltenen Krankheiten? Ein paar ausgemachte Blindgänger scheinen da draußen auch unterwegs zu sein, wenn man das so liest. Aber in welchem Beruf gibt’s die nicht?
Wenn keine der Behandlungen anschlägt, wird der Patient schnell mal auf die Psycho-Schiene geschoben. Das geht in den Fallbeispielen der Bauersfrau so, die ihren Hof verkauft, in die Stadt zieht und fürderhin unter merkwürdigen Anfällen leidet. Auch der jungen Polizistin mit den jäh auftretenden Bauchschmerzen, die sich nur im Liegen bessern, bescheinigt man eine Depression und schickt sie zum Psychotherapeuten. Und nein, die junge Mutter hat keine Wochenbett-Depression! Auch dem Geschäftsmann, der zwei Jahre lang (!) täglich unter Übelkeit und Erbrechen litt, hat niemand die richtigen Fragen gestellt. Da wurde von verschiedenen Ärzten gleich die Karte „psychosomatisch“ gezogen.
Das ZusE-Team nimmt sich Zeit
Wenn man das jeweilige Kapitel fertiggelesen hat und die richtige Diagnose kennt, fragt man sich schon, warum denn nie zuvor einer auf die Idee gekommen ist, bei den Patienten den Kalium- oder Hormonspiegel zu prüfen, eine Stuhluntersuchung vorzunehmen oder den Menschen auch nur zu fragen, ob er Haustiere hat. Aber hinterher ist man natürlich immer schlauer. Wenn man weiß, worauf man hätte achten müssen, kann man leicht mit dem Finger auf ein Versäumnis zeigen.
Die ZusE-Mitarbeiter wissen, dass sie privilegiert sind, weil sie sich viel Zeit für die Diagnose nehmen können und über ein Team hochkarätiger Spezialisten verfügen, das die kleinsten Symptome zu deuten weiß und einen Fall gründlich durchdiskutieren kann. „Wir sind nicht besser als andere (…)“, erklärt der Autor. „Aber wir versprechen, uns sehr viel Mühe zu geben und unvoreingenommen zu versuchen, Probleme zu lösen.“ (Seite 10).
Wir erfahren einiges darüber, wie die Experten einen Fall angehen und die möglichen Ursachen eingrenzen. Und ein bisschen nutzt der Professor auch die Gelegenheit, dem Laien unterzujubeln, was dieser vielleicht gar nicht so genau wissen will: wie ungerecht das Abrechnungssystem im Krankenhaus ist. Dass den Ärzten das stinkt, leuchtet schon ein. Aber inwiefern das nun Auswirkungen auf die Versorgung des Patienten hat, war mir ein bisschen zu hoch. Ich hab dann zum nächsten Fallbeispiel vorgeblättert …
Hilfe! Das Inhaltsverzeichnis spoilert!
Durch die vielen konkreten Beispiele liest sich das Buch locker und – trotz des ernsthaften Themas – amüsant. Und vielleicht ist das, was man hier erfährt, sogar mal hilfreich.
Ich habe die Hardcover-Ausgabe von 2015 gelesen und möchte jedem Leser raten: Wer wirklich miträtseln will, unter welcher Krankheit die hier vorgestellten Patienten leiden, soll um Himmels Willen die Finger vom Inhaltsverzeichnis lassen! Da steht nämlich hinter jeder Kapitelüberschrift gleich die Diagnose in Klammer. Was immer man sich dabei gedacht hat …
Der Autor
Prof. Dr. Jürgen Schäfer, geboren 1956, ist Herzspezialist und Leiter des »Zentrums für unerkannte Krankheiten« an der Universitätsklinik Marburg. Er hat viele Jahre in den USA geforscht. In seinen Vorlesungen unterrichtet Jürgen Schäfer seine Patienten am Beispiel von Folgen der TV-Serie Dr. House, dafür wurde er mit einem Preis für exzellente Lehre ausgezeichnet.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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