Charlie Kant: Wie lang ist die Extrameile? – Eine Unternehmensberaterin misst nach

Charlie Kant: Wie lang ist die Extrameile? – Eine Unternehmensberaterin misst nach, Berlin 2018, Schwarzkopf & Schwarzkopf-Verlag, ISBN 978-3-86265-698-1, Klappenbroschur, 274 Seiten mit s/w Illustrationen von Jana Moskito, Format: 13,1 x 2,7 x 20 cm, EUR 14,99.

Abbildung: (c) Schwarzkopf & Schwarzkopf

„Eure Extrameile beginnt um Mitternacht‘ – mit diesem Leitsatz tauchten meine neuen KollegInnen und ich ein in die Arbeitswelt der Consultants. Als ‚Extrameile‘ werden im Beraterjargon jene letzten Meter genannt, die die Spreu vom Weizen trennen, den ‚High Performer‘ vom ‚Low Performer‘.“ (Auszug aus dem Klappentext)

Gibt uns ein Mensch Einblick in sein Berufsleben, kann ich einfach nicht widerstehen: Ich muss das lesen. In diesem Band ist es eine Psychologin, die es in die Welt der Unternehmensberater verschlagen hat. Vielleicht kann sie uns ja erklären, über welche spezielle Art der „Magie“ dieser Berufsstand verfügt.

In den gut drei Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit sind mir öfter mal VertreterInnen der Beraterbranche begegnet. Das Honorar für ihre Bemühungen war bestimmt happig – und das Ergebnis immer dasselbe: Ein großer Teil der Belegschaft verlor den Job und die Arbeit wurde auf die verbleibenden Mitarbeiter verteilt. Manche Aufgaben wurden auch an externe Unternehmen vergeben – was man mit schöner Regelmäßigkeit nach ein paar Jahren wieder rückgängig machte, weil Qualität und/oder Preis nicht stimmten. An den internen Strukturen änderte sich nie viel.

Hinter den Kulissen der Unternehmensberatung


Hätten unsere jeweiligen Bosse das nicht auch alleine hingekriegt? Wie überzeugen eigentlich die Berater die Firmen davon, dass diese ihre Dienste benötigen? Verkaufen sie nur ein reines Gewissen und gehen mit einem ebensolchen nach Hause? Am Schluss sind es ja die Chefs der auftraggebenden Unternehmen, die vor Ihren Mitarbeitern stehen und sagen: „Sorry, aber die Analysen des Consulting-Unternehmens haben ergeben, dass wir ein Viertel von euch entlassen müssen.“ Und die Berater ziehen mit einem Schulterzucken weiter, freuen sich auf ihren Bonus und denken: „Wir sind’s ja nicht, die die Leute feuern. Das macht unser Kunde.“

Wenn das Ganze hauptsächlich ein zynisches Geschäft mit Schuld und Verantwortung ist, glauben die Berater dann überhaupt ihren eigenen Analysen oder ist es im Grunde vollkommen wurscht, was auf den Powerpoint-Folien steht? Machen sie sich überhaupt Gedanken darüber, oder kreisen sie so um sich selbst, dass das gar keine Rolle spielt?

Auf viele meiner Fragen habe in diesem Buch tatsächlich eine Antwort bekommen. Doch von vorn:

Die Extrameile beginnt nach Mitternacht


Jeder im Unternehmen will und muss die titelgebende „Extrameile“ gehen, denn einerseits erwarten die Kunden, dass die Berater über alle Erwartungen hinaus „performen“ und andererseits werden nur die „High Performers“ befördert. Sprüche wie „Es gibt keinen Stau auf der Extrameile“ oder „Die Extrameile beginnt nach Mitternacht“ kennen dort alle.

Für die Beförderung und das Gefühl, zu den Besten gehören, nehmen die Mitarbeiter in Kauf, von Montag bis Freitag aus dem Koffer zu leben, unzählige Nächte durchzuarbeiten, kaum mehr Zeit für soziale Kontakte außerhalb der Firma zu haben, ständig abrufbar zu sein und auf einen Burn-out zuzusteuern.

Das würde natürlich nicht jede/r mitmachen. Diese Branche zieht – genau wie alle anderen – einen bestimmten Menschentyp an. Die Autorin beschreibt ihre Motivation so: „Ich wollte ein gutes Einstiegsgehalt, eine steile Lernkurve und nicht zuletzt wollte ich … mir selbst beweisen, dass ich ‚smart’ genug für den Job eines Consultants bin.“ (Seite 25)

Wie geschaffen für den Stress und Druck


Die Traumkandidaten einer Unternehmensberatung sind die „Unsicheren Über-Erreicher“. Sie lechzen nach der Anerkennung von Vorgesetzten, Kollegen und Kunden und fürchten selbst dann noch, den Erwartungen nicht zu entsprechen, wenn sie ihre Arbeit termingerecht und fehlerfrei abliefern.

Neulinge werden als Rohdiamanten betrachtet und gnadenlos geschliffen. Es ist nämlich nicht egal, was in den Strategiepapieren steht und wie diese dem Kunden präsentiert werden. Und Consultants haben auch nicht nur die Aufgabe, eine Rechtfertigung dafür zu finden, x % einer Belegschaft zu feuern.

Wer von den Neulingen die Einarbeitungszeit übersteht und den „Berater-Sprech“ zu beherrschen lernt – ein gruseliges Denglisch, das aber auch in anderen Branchen üblich ist –, der darf nun arbeiten bis zum Umfallen, genießt aber auch so manche Annehmlichkeit: Laptop, Handy und Fahrzeug werden gestellt, Wohnungskosten laufen auf Projektkosten. Man speist werktags im Hotel, die Firma zahlt. Kreditkartengebühren, Beiträge fürs Fitnessstudio und Reinigungskosten für die Business-Kleidung übernimmt ebenfalls die Firma. Bahn- und Flugmeilen sammelt man obendrein und kann sie privat nutzen.

Wenn Zeit Geld ist, sind Berater arm


Die Freizeit beschränkt sich allerdings auf Samstag und Sonntag – also auf 48 Stunden pro Woche. Von Montag bis Freitag ist man auf Reisen und ausschließlich im Berater-Universum unterwegs. Wenn Zeit Geld ist, sind Berater arm.
„Wenn etwas fertig werden muss, dann ist es egal, ob du Müdigkeit verspürst und schon acht Stunden hinter dir hast“, erklärt die Autorin einer branchenfremden Bekannten. (Seite 88) „Klingt nach moderner Sklaverei“, antwortet diese prompt. Charlie weiß genau, was sie meint. Sie sieht ihre Arbeit und das Leben, das sie führt, durchaus kritisch.

Wenn sie aus ihrem Arbeitsalltag berichtet, fragt man sich, wie lange ein Mensch diesen Stress überhaupt aushält und wie lange sie diesen Zirkus noch mitmachen will. Belohnungsaufschub schön und gut, aber irgendwann muss sich der Trick mit der Karotte, pardon, der Beförderung vor der Nase ja abnutzen. Oder der Mensch erwartet etwas anderes vom Leben als nur durch die Gegend zu jetten und rund um die Uhr zu arbeiten.

Raus aus dem System!


Auch wenn Charlie auf den Anruf eines Headhunters hofft – der Wechsel in eine andere Firma brächte nur mehr Gehalt. An den Lebensumständen würde sich nichts ändern. Da bringt es auch nicht viel, wenn man Yoga macht oder Entspannungsseminare besucht. Damit doktert man nur an den Symptomen herum. Wer das System nicht mehr erträgt, muss es verlassen. Und so arbeitet auch Charlie nach ein paar Jahren an ihrer persönlichen Exit-Strategie.

Und was nimmt ein Berater nun mit fürs Leben, wenn er der Branche den Rücken gekehrt hat? Ich hoffe, es ist ein bisschen mehr als Bahn- und Flugmeilen und teure Business-Klamotten, für die er nun keine Verwendung mehr hat. In Charlie Kants Fall erfahren wir es leider nicht. Sie verrät uns nicht, wie es nach ihrem Ausstieg beruflich für sie weiterging. Mag sein, dass sie dadurch ihre Anonymität schützen will. Ich gehe mal davon aus, dass Charlie Kant ein Pseudonym ist. Oder aber der vorliegende Band beruht überhaupt nicht auf den Erfahrungen einer konkreten Person, sondern ist das Ergebnis von Interviews und Recherchen.

Selbsttest: Wäre ich ein guter Berater?


Wie dem auch sei – wir erhalten interessante Einblicke in die Welt der Unternehmensberater. Der humorvolle Ton und Jana Moskitos ansprechende und witzige Illustrationen täuschen aber nicht darüber hinweg, dass die Beratungsfirmen ihre Mitarbeiter so geschickt manipulieren, dass sie sich auch noch gerne ausbeuten lassen. So gesehen ist die Branche brutaler, als man sie sich gemeinhin vorstellt. Den Kunden gegenüber scheint sie immerhin weniger zynisch zu sein als ich vermutet hatte. Vor allem aber überraschte und erschreckte mich, wie viele dieser Sprüche, Tricks und Mechanismen ich in meinem eigenen Berufsleben wiederfand. Nicht mal der „Berater-Sprech“ kam mir besonders exotisch vor. Ich hatte Kollegen, die genau so redeten. Das Bullshittoversum der Beraterbranche ist mir also näher als mir lieb ist. Die Seelenfänger sind überall. Und mit dieser Erfahrung werde ich vermutlich nicht alleine dastehen.

Der Selbsttest (Seite 238 ff.), mit dem man seine eigene Befähigung zum Berater testen kann, hat bei mir, wie bei vermutlich vielen Marketing-Leuten und sonstigen Büroangestellten, ergeben: Ja, auch ich könnte diesen Job machen – nur würde ich das nicht wollen.

Die Autorin
CHARLIE KANT, geboren 1988, ist studierte Psychologin und seit 2014 als Beraterin bei einer global agierenden Unternehmensberatung tätig. Mit 25 Jahren stieg sie als ‚New Joiner‘ in München ein, im Jahr 2015 ging sie nach London und lebt und arbeitet seitdem in England. In ihrem Alltag geht sie selbst täglich die Extrameile, allein wenn sie für ihre Kunden nach Pfronten oder Blackpool reisen muss.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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