Simone Dorra, Ingrid Zellner: Ein Band aus Stahl. Band IV der Kashmir-Saga, Hamburg 2019, Tredition, ISBN 978-3- 7497-4071-0, Softcover, 518 Seiten, Format: 17 x 2,7 x 24,4 cm, Buch: EUR 19,99, Kindle: EUR 4,99.
„Plötzlich sah er Sameera vor seinem geistigen Auge. Du würdest mir wahrscheinlich widersprechen, meine Liebste, aber manchmal muss man der Gerechtigkeit sein Schwert leihen, wenn das ihre stumpf geworden ist.“ (Seite 285)
Srinagar/Kashmir: Strategie sei nun mal nicht sein Ding, erklärt Taxifahrer Raja Sharma schulterzuckend, als er gegen seinen Kumpel, den Waisenhausleiter Vikram Sandeep, beim Schachspiel verliert. Ein cleverer Stratege zu sein, das hat in seinen 50 + Lebensjahren auch noch niemand von ihm verlangt – bei der Arbeit nicht, damals im Knast nicht und in der Familie auch nicht.
Raja ist ein liebevoller, großzügiger, emotionaler und ziemlich impulsiver Familienmensch. Außerdem ist er überaus hilfsbereit. Als er gehört hat, dass das Waisenhaus seines Kumpels in Srinagar einen schweren Sturmschaden erlitten hat und dringend ein neues Dach braucht, hat er nicht nur die 10 Kinder des Hauses bei sich und seinen Verwandten in Shivapur/Maharastra einquartiert, er hat sich auch sofort zusammen mit seinem ältesten Sohn und einem befreundeten Kollegen ins nächste Flugzeug gesetzt, um Vikram Sandeep und dessen Frau Sameera beim Wiederaufbau des Waisenhauses zu helfen.
Die Geister der Vergangenheit
Die Zusammenarbeit mit Sandeeps und den lokalen Handwerkern läuft bestens. Trotz des ernsten Anlasses hat der Bautrupp eine Menge Spaß. Nur Vikram ist nicht ganz bei der Sache. Ihm fehlen seine Pflegekinder, er sorgt sich aus nachvollziehbaren Gründen um die Gesundheit seiner Frau, und er kämpft wieder einmal gegen Gespenster aus seiner Vergangenheit.
Bevor Vikram das Waisenhaus gegründet hat, ist er 25 Jahre lang als Agent der Abwehr gewesen. Während dieser Zeit hat er so manches getan, worauf er heute nicht sehr stolz ist, und er hat sich mächtige Feinde gemacht. Gegen einen von ihnen, den korrupten Polizeichef von Srinagar, Avan Gupta, soll er auf Bitten der Politikerin Najiha Kamaal, in Delhi vor einem Ausschuss aussagen. Kein großes Ding, denkt er, und hofft, dass sie endlich genügend in der Hand haben, um Gupta aus dem Verkehr zu ziehen.
Mehr im Spaß überträgt er vor seiner Abreise seinem Freund Raja die Verantwortung für das Haus und das Wohlergehen seiner Frau. Was soll schon schiefgehen? Er ist ja nur ein paar Tage weg und Avan Gupta weiß nichts von den Ermittlungen gegen ihn. Doch Murphys Gesetz gilt auch in Indien: Als Sameera nicht von einem Routinecheck aus der Klinik zurückkehrt, rennt Raja panisch zur Polizei. In der Stadt findet gerade eine Demonstration statt. Vielleicht ist Sameera auf dem Rückweg dort hineingeraten und versehentlich verhaftet worden?
Auf dem Heimweg spurlos verschwunden
Wie’s der Teufel will, gerät Raja ausgerechnet an Avan Gupta. Als dieser begreift, dass er nicht nur Vikram Sandeeps Frau in seiner Gewalt hat, sondern auch noch dessen besten Freund, sieht er eine einmalige Chance, es seinem alten Feind so richtig heimzuzahlen. Also kehrt auch Raja nicht mehr ins Waisenhaus zurück. Er wird in ein entlegenes Camp verschleppt und dort von Guptas Handlangern gefangen gehalten und misshandelt. Töten dürfen sie ihn nicht. Jedenfalls noch nicht. Jetzt hat Gupta zwei Geiseln, die er genau so lange benötigt, bis er das Land verlassen hat. Und seine Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren.
Fast schlimmer noch als die Misshandlungen und die Todesangst, die die beiden Geiseln erleiden, ist der perverse „Deal“, den Gupta ihnen anbietet. Sollten sie aus dieser Nummer je wieder lebend herauskommen, werden sie sich davon nie mehr richtig erholen. Man darf nicht vergessen: Sameera und Raja sind durch ihre jeweilige Vorgeschichte traumatisiert. Bei den beiden würden schon weitaus harmlosere Auslöser genügen, um sie in einen psychischen Ausnahmezustand zu versetzen.
Als Vikram aus Delhi zurückkommt und Frau und Kumpel verschwunden sind, zählt er zwei und zwei zusammen. Da kann nur Avan Gupta dahinterstecken, der möglicherweise Wind von dem Untersuchungsausschuss bekommen hat!
Amateure auf Rettungsmission
Was jetzt? Zur Polizei kann Vikram nicht gehen, die steckt mit seinem Erzfeind unter einer Decke. Aufs Militär kann er nicht mehr zählen, dazu ist er zu lange raus aus dem Geschäft, wiewohl er noch inoffizielle Kontakte zu hochrangigen Offizieren hat. Also muss er für seine Such- und Rettungsmannschaft auf die Hilfe von Freunden zurückgreifen. Doch das sind allesamt Laien, deren Nahkampferfahrung kaum über eine Wirtshausrauferei hinausgeht. Der, auf dessen Schießkünste er vertrauen können muss, hat noch nie zuvor eine Waffe in der Hand gehabt. Das wird das absolute Himmelfahrtskommando!
Die meisten Mitglieder der improvisierten Rettungsmannschaft hätten sich nie träumen lassen, einmal „der Gerechtigkeit ihr Schwert leihen“ und Selbstjustiz üben zu müssen, aber in der Not wachsen sie über sich hinaus. Und Raja Sharma, der Mann, der von sich behauptet, seiner Lebtag noch keine Strategie gehabt zu haben, braucht nun ganz dringend eine …
Schwer erträgliche Gewaltexzesse
Es ist schwer erträglich zu lesen, wie Raja Sharma von Guptas Schergen misshandelt wird. Wir wissen zwar aus den vergangenen Bänden, dass der Taxifahrer aufgrund seiner Knasterfahrung ein harter Hund ist, aber diese Gewaltexzesse konnte ich zum Teil nur überfliegen. Gewalt in Zusammenhang mit einem starken Machtgefälle verursacht mir Albträume, selbst wenn sie nur fiktiv ist. Gut, dass der Gefangene wenigstens ein kleines bisschen Unterstützung hat von einem blutjungen Wärter, der fast genauso arm dran ist wie er selbst.
Kenner*innen der Reihe begegnen hier einem vertrauten Muster wieder: Je besser es den Sandeeps und Sharmas geht, desto schlimmere Katastrophen hält das Schicksal für sie bereit. Es wird einem schon angst und bange, wenn man sie eingangs so fröhlich an ihrem Haus herumwerkeln sieht. Das kann nicht lange gutgehen! Diese Ängste kennen wir vermutlich alle aus dem eigenen Leben. In einer so unruhigen Gegend wie Kashmir und bei Menschen, die von schlimmen (Gewalt-)Erfahrungen geprägt und traumatisiert worden sind wie die Helden dieser Romanreihe, ist das Unglück, das sie trifft, natürlich ungleich dramatischer als bei uns Leser*innen. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ nimmt hier gewaltige Dimensionen an.
Es gibt noch Wunder
Ein bisschen Bollywood-Feeling gibt’s schon auch. Der Handlungsstrang mit Azad und Ameera ist rührend, aber vielleicht doch der glücklichen Zufälle ein bisschen zu viel. Ein, zwei Wunder pro Roman würden mir eigentlich reichen. Aber das ist Geschmacksache und ohnehin nur eine winzige Nebenhandlung in dieser großen Saga.
Die Geschichte der Entführung bzw. Rettungsmission hatte fast mehr Spannung als ich ertragen konnte. Ich gestehe, gelegentlich vorgeblättert zu haben um zu gucken, ob es Hinweise auf eine erfolgreiche Geiselbefreiung gibt, weil ich die Spannung sonst nicht ausgehalten hätte.
Besonderer Service
Ganz vorne im Buch ist dankenswerterweise ein Hinweis darauf, dass es im Anhang ein Glossar und ein Personenverzeichnis gibt. In die Dialoge sind immer wieder Begriffe auf Arabisch, Hindi und Urdu eingestreut. Wer genau wissen will, was sie bedeuten, kann hinten im Band nachschlagen, doch was gemeint ist, erklärt sich eigentlich meist aus dem Zusammenhang. Auch das Personenverzeichnis ist hilfreich, wobei man aber auch wunderbar klarkommt, wenn man die Bewohner*innen des Waisenhauses nicht alle mit Vor- und Zunamen kennt und die Mitglieder von Raja Sharmas großer Familie mit der ständig wachsenden Kinderschar nicht auseinanderhalten kann.
Drei weitere Bände in Planung
Noch drei weitere Bände der Reihe sind geplant. So langsam müssten eigentlich alle alten Feinde von Vikram und Raja ausgeschaltet sein oder das Interesse an den beiden verloren haben. Auch für Erzfeinde und Mistkerle geht das Leben schließlich weiter. Aber ich bin sicher, die zwei Herren werden durch ihre Hilfsbereitschaft und ihren Gerechtigkeitssinn trotzdem Möglichkeiten finden, sich auch in Zukunft in lebensgefährliche Situationen zu bringen. Die politische Lage im Land dürfte das ihrige dazu beitragen. Und ich werde die Reihe weiterhin sehr interessiert verfolgen.
Die Autorinnen
Simone Dorra wurde 1963 in Wuppertal geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitete mehrere Jahre als kirchliche Radio-Redakteurin für den Privatfunk. Sie ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Autorin von bislang drei Büchern im Silberburg-Verlag Tübingen. Als begeisterter Fan von Indien und Kashmir schrieb sie DAS HAUS DES FRIEDENS als Soloprojekt und setzte es gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Ingrid Zellner zu einer Serie in insgesamt sieben Bänden fort, die in den Jahren 2017 bis 2022 erscheinen werden. www.simonedorra.de
Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium
der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in
München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater
Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München.
Veröffentlichung von Romanen, Krimis, einem Kinderbuch, Kurzgeschichten,
Theaterstücken, CD-Booklet-Texten und Artikeln. Freiberufliche Tätigkeit u.a.
als Übersetzerin (Schwedisch) sowie als Schauspielerin, Regisseurin und
Autorin. www.ingrid-zellner.de
www.kashmirsaga.de
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de