Gina Mayer: Die Schwimmerin, Roman, Hamburg 2020, HarperCollins, ISBN 978-3-95967-557-4, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 352 Seiten, Format: 13,3 x 3,2 x 21,1 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 14,99.
„Gabriele hatte recht, sie hatte es gut, viel zu gut. Sie wusste, dass es ihr nicht zustand. Jemandem wie ihr stand nichts zu, das hatten ihr die Schwestern schließlich lange genug eingetrichtert. Dennoch hatte sie gehofft, dass sie genug bezahlt hätte. Vier Jahre voll harter Arbeit und Hunger. (…) Aber nun präsentierte Gott ihr die Rechnung und sie sah, dass sie immer noch im Soll war.“ (Seite 297)
Essen 1962: Nachbarinnen und Bekannte beneiden die frisch verheiratete Betty (32): Mit dem attraktiven und gut verdienenden Buchhalter Martin Strissel hat sie das große Los gezogen. Sie muss nicht mehr als Verkäuferin in der Bäckerei arbeiten und hat eine moderne, schick eingerichtete Wohnung. Sogar ihre Schwiegermutter ist nett. Mit so viel Glück können die anderen nicht mithalten.
Frau ohne Vergangenheit
Niemandem scheint aufzufallen, dass man praktisch nichts über Bettys Vergangenheit weiß. Das merkt nicht mal ihr Mann. Sowie es um ihre Familie geht, wird Betty noch einsilbiger als sonst. Was mag sie den Leuten erzählt haben? „In Düsseldorf ausgebombt und in einem schwäbischen Dorf einquartiert worden. Nach dem Krieg beruflich in Essen gelandet. Keine Angehörigen mehr.“
Das ist zwar nicht gelogen, aber nur die halbe Wahrheit. Sonst wäre Betty nicht so erschrocken, als ein junges verwahrlostes Mädchen sie anspricht, Geld von ihr fordert, und ihr damit droht, andernfalls Martin „alles“ zu erzählen. Dass die Kleine wirklich etwas weiß, zeigt sich schon daran, dass sie Betty mit ihrem Mädchennamen, Elisabeth Sonne, anspricht. Betty ahnt, aus welcher Quelle das Mädchen sein Wissen hat – und zahlt.
Was hat Betty zu verbergen?
Weilerbach 1942 – 1945: Was Betty zu verbergen hat, erfahren wir in ausführlichen Rückblenden in die Kriegs- und Nachkriegszeit. Das Unglück fängt schon früh an. Weil ihre Mutter so unselbstständig ist, findet bei Elisabeth eine Parentifizierung statt. Wenn der Vater nicht verfügbar ist, trifft nicht die Mutter die Entscheidungen, sondern die Tochter. Die ist eine Einserschülerin am Lyzeum und hat notgedrungen schon in jungen Jahren gelernt, entschlossen zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.
Mit diesen Eigenschaften hätte Elisabeth zu anderen Zeiten Karriere machen können. Aber nun ist Krieg, der Vater ist gefallen, die Wohnung ist weg und Mutter und Tochter müssen in einer fremden Umgebung als mittellose, unwillkommene Flüchtlinge bei Null anfangen. In einem Dorf bei Schwäbisch Gmünd werden sie in einem Schulhaus einquartiert. Die Mutter sitzt verängstigt und weinend auf dem Dachboden, während sich die zwölfjährige Elisabeth um alles kümmert. In der dörflichen Volksschule ist sie unterfordert und greift mit beiden Händen zu, als Pastor Nolting ihr einen Platz am Gymnasium in Schwäbisch Gmünd verschafft.
Elisabeths Ersatzfamilien
Der kinderreiche Pastorenhaushalt wird ihre Ersatzfamilie. Risse bekommt diese innige Freundschaft, als eine jüdische Familie aus dem Dorf abgeholt wird. Elisabeth ist bitter enttäuscht, weil der Pastor nichts dagegen unternimmt und seine Familie gleichgültig über das Thema hinweggeht. Ist er etwa nur ein Maulheld? – Nun, mit den Noltings wird Elisabeth noch manche Überraschung erleben!
Als 1945 die Amerikaner kommen, interessiert niemanden, dass Elisabeth erst 15 ist. Sie arbeitet als Dolmetscherin und Sekretärin für den Major und führt das Leben einer Erwachsenen. Als ihre Mutter einen Kerl kennenlernt und wegzieht, bleibt Elisabeth im Schwäbischen, was nicht zuletzt mit einem Bauernburschen zu tun hat, der ihr nicht nur das Schwimmen beibringt. Dann geht auf einmal alles schief und Elisabeth gerät in die Mühlen der Fürsorge. Und das ist die Hölle auf Erden.
Flucht nach vorn
Essen, 1962: In ihrer Not vertraut sich Betty ihrer Nachbarin Gabriele an, die mit ihrer düsteren Vorhersage recht behält: Die Erpresserin fordert immer mehr Geld. Gabriele schlägt vor, die Flucht nach vorn anzutreten. Vielleicht kann man der Kleinen das Handwerk legen, indem man herauskriegt, wie sie an die vertraulichen Informationen gelangt ist. Legal kann das nicht vonstatten gegangen sein! Für Betty/Elisabeth wird diese Recherche zu einer schmerzlichen Reise in die Vergangenheit …
Auch wenn der Fürsorge-Albtraum fast ein halbes Leben zurückliegt – Bettys innere Stimmen klingen immer noch wie die der brutalen Schwestern aus dem Heim. Glück, so hat sie gelernt, hat sie nicht verdient. Jeden Moment kann jemand kommen und es zerstören. Sie würde alles dafür tun, das festzuhalten, was sie bislang erreicht hat, selbst wenn man sich als Leser*in nicht vorstellen kann, dass dieses Leben sie wirklich glücklich macht.
Wegsehen und Kompromisse machen
Betty muss viele Kompromisse eingehen und sich einiges schönreden. Das ist nur annehmbar, wenn man es mit dem vergleicht, was sie schon hinter sich hat. Hier hat der Krieg vieles ruiniert und der spießige Zeitgeist der Sixties lässt den Menschen kaum Spielraum. Die ehemaligen Schulkameraden, die manchmal an Elisabeth Sonne denken und sich ausmalen, was wohl aus ihr geworden ist, wären von Betty Strissels Leben vermutlich enttäuscht.
Nur beim Schwimmen vergisst Betty ihre Sorgen. Hier hat sie die Kontrolle. Sie folgt einer Routine, die durch nichts gestört wird. Sie weiß, dass sie nicht untergehen wird – es sei denn, sie selbst will untertauchen – und sie beherrscht die Kunst, in jeder Lage den Kopf über Wasser zu behalten. Wenn das im restlichen Leben nur auch so einfach wäre!
Desillusionierte Menschen
In die bildhafte Sprache könnte ich mich hineinsetzen! Ich hab schon bei anderen Büchern der Autorin gesagt, dass man ihre Geschichten sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken kann, auch wenn das nicht immer angenehm ist. „Die Langeweile tropfte von den dunklen Holzbalken, sie strömte unter den Feldbetten empor und füllte den gesamten Raum, füllte auch Elisabeth selbst mit grauer Leere.“ (Seite 35) DIE SCHWIMMERIN ist ja auch kein „Wohlfühlbuch“. Hier geht es um beschädigte, desillusionierte Menschen, die irgendwie weiterleben müssen. Manchmal kann man sich ein kleines böses Grinsen nicht verkneifen, wenn Gina Mayer in einem lakonischen Satz das künftige Schicksal einer der Nebenfiguren vorwegnimmt: „(…) Nach ihrer Entlassung würde sie wieder als Prostituierte arbeiten, bis einer ihrer Freier sie heiratete und nach einem Jahr Ehe im Vollrausch totschlug.“ (Seite 302)
Die Menschen ändern sich nicht und sie lernen nur wenig aus ihren Fehlern. Mit Unangenehmem möchten sie sich nicht beschäftigen, weil Wegsehen bequemer ist. So bleibt im Wesentlichen alles so, wie’s immer war. Wer einmal ganz unten ist, kommt selten wieder hoch. Und das kleine Glück zwischendrin ist flüchtig und fragil.
Ob Betty wirklich glücklich wird?
Auch wenn die Weltsicht hier recht pessimistisch ist, ist es spannend und faszinierend mitzuerleben, wie Elisabeth sich durchs Leben kämpft. Dass die Dörfler zum Teil recht deftig schwäbisch schwätzen („Meedig“) und auch ein paar Damen in Düsseldorf und Essen Dialekt sprechen, hat mich nicht gestört. Ich hatte keinerlei Verständnisschwierigkeiten und empfand das als authentisch.
Wahrscheinlich werde ich mich noch eine Weile fragen, ob Betty mit dem, was sie sich in Essen aufgebaut hat, wirklich glücklich geworden ist oder ob sie ihr Leben irgendwann einmal radikal umgekrempelt hat. Manche von Gina Mayers Romanheldinnen haben die Fähigkeit, einem noch lange Zeit im Kopf herumzuspuken. Man denkt darüber nach, was aus wohl aus Ihnen geworden ist, als wären sie reale Personen. Mir scheint, Elisabeth ist auch so eine.
Die Autorin
Gina Mayer, geb. 1965, studierte Grafik-Design und arbeitete danach als freie Werbetexterin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Seit 2006 hat sie eine Vielzahl an Romanen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Ihre Werke standen auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Gina Mayer lebt mit ihrem Mann in Düsseldorf. https://ginamayer.de
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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