Kevin Dutton: Schwarz. Weiß. Denken! – Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht, OT: Black and White Thinking, aus dem Englischen von Ursula Pesch, München 2021, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN: 978-3 423 28245 1, Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten, mit s/w-Fotos und Info-Grafiken, Format: 14,2 x 3,5 x 21,3 cm, Buch: EUR 24,00 (D), EUR 24,70 (A), Kindle: EUR 19,99.
Mit meinem laienhaften Verstand denke ich ja öfter mal, dass in unseren Gehirnen eine uralte Software läuft, die uns „seinerzeit auf den Bäumen“ gute Dienste geleistet hat, aber inzwischen doch ein paar Updates vertragen könnte. Und wenn ich mir ansehe, was der Forschungspsychologe Kevin Dutton in diesem Buch schreibt, liege ich mit meinem Verdacht gar nicht so falsch.
Entweder oder
Als die Menschheit noch ganz am Anfang war, war das Leben noch nicht so kompliziert wie heute und unser Denken binär: gefährlich oder harmlos, Schlange oder Ast, Flucht oder Kampf, Freund oder Feind, essbar oder giftig, Leben oder Tod, entweder oder. Die Entscheidung musste jeweils schnell getroffen werden. Für differenzierte Betrachtungen war keine Zeit und es bestand dazu auch kein Anlass.
Als die frühen Menschen in kleinen Stammesverbänden zusammenlebten, war auch diesbezüglich die Weltsicht einfach: Es gab „uns“ und „die anderen“. „Wir gegen sie“ diente dazu, den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken, und damit das Zusammenleben funktionierte, gab es Verhaltensregeln, also erwünschtes und unerwünschtes Benehmen.
„Ihre Umwelt war stabil. Die Herausforderungen waren einfach und kurzer Dauer. Und die Kategorisierungen eindeutig: Antilopen mussten durchbohrt (Kampf), und Löwen gemieden werden (Flucht), der Verwandtschaft musste geholfen (wir) und übergriffigen Stämmen Widerstand geleistet werden (sie). Jagdbeute musste geteilt werden (richtig) und die Partner anderer Mitglieder mussten gemieden werden (falsch). (Seite 245/246)
Mit der Keule im Internet
„Wir gegen sie“ trifft man heute noch sehr häufig an. Vor allem in den sozialen Medien sind offenbar noch einige Teilnehmer:innen mit der Keule unterwegs. Vollends bizarr wird es, wenn die Wahrheit oder Unrichtigkeit einer Aussage nicht von deren Nachprüfbarkeit abhängt, sondern davon, ob der, der das gesagt hat, einer von uns oder einer von denen ist. Diese Stammes-Epistemologie begegnet uns nicht nur online, sondern auch in der Politik. Das ist unser alter Hang zum Tribalismus.
Und was machen wir, wenn wir merken, dass wir auf dem Holzweg sind? Einen Irrtum zuzugeben ist nicht gerade die Stärke des Homo sapiens. Je mehr wir in eine Überzeugung „investiert“ haben, desto eher neigen wir dazu, uns die Fakten so zurechtzubiegen, dass wir unsere irrige Meinung nicht ändern müssen. Wir reden uns die Sache schön.
Kategorien und Trennlinien
Wie schaffen wir es eigentlich, mit unserem binär funktionierenden Gehirn in einer Welt zurechtzukommen, die aus lauter Grautönen besteht? Wenn wir diese Tatsache nicht gerade ignorieren wollen und wie die Höhlenmenschen weiter in Schwarz und Weiß denken, teilen wir das, was wir wahrnehmen, in Kategorien ein und ziehen Grenzen und Trennlinien. Das hilft uns bei der Einordnung von Fakten und der schnellen Orientierung. Dieses Vorgehen hat aber seine Tücken: Wie grob oder fein muss oder darf so eine Aufteilung in Kategorien sein? Wie viele Gruppen bilden die Realität hinreichend genau ab? Welche Unterscheidungen sind noch hilfreich und ab wann wird’s einfach nur unübersichtlich und verwirrend? (Ich bekomme schon die Krise in einem großen Supermarkt mit zu viel Auswahl oder beim Einordnen eines Buchs in ein bestimmtes Genre, wenn die Kategorie nicht glasklar auf der Hand liegt.)
Wo ziehen wir am besten Trennlinien und wie genau halten wir sie ein? Wir legen für alle möglichen Lebenslagen Grenzwerte fest und finden die Konsequenzen daraus dann manchmal unfair: So groß ist der Unterschied zwischen einem Notendurchschnitt von 1,3 und 1,4 ja nicht. Doch denken wir an den Numerus clausus: der eine Mensch könnte sein Wunschfach studieren, der andere müsste sich beruflich umorientieren. Es ist nicht immer leicht, mit diesen Abstufungen umzugehen.
Wie man Menschen manipuliert
Wir erfahren, dass wir in Rahmen (Frames) denken und wie und warum das „Framing“ funktioniert, das heißt, wieso es eine Rolle spielt, ob jemand von „Geflüchteten“ oder von „Migranten“ spricht, von „Föten“ oder von „ungeborenen Babys“. Wir lernen die „Prospect“-Theorie kennen, die besagt, dass wir nicht so sehr hassen wie (etwas) zu verlieren. Mit der Angst davor kann man Menschen sehr erfolgreich manipulieren. Und wir entdecken, wie man anderen Menschen vormacht, dass etwas in ihrem Interesse sei, obwohl es hauptsächlich in unserem Interesse liegt.
Kevin Dutton erklärt uns das SPICE-Modell: 5 Prinzipien, mit denen man sehr effektiv Menschen überzeugen kann. Auf Deutsch funktioniert das griffige Akronym leider nicht, da muss man die 5 Punkte stur auswendig lernen. Nicht alles lässt sich eben auf eine so einfache Formel bringen wie diese: „Für jede Handlungsweise, die wir einen anderen vorziehen, gibt es zwei fundamentale Superprinzipien: Die Erwartung von Vergnügen. Und die Vermeidung von Schmerz.“ (Seite 223)
Der Autor zeigt uns, warum „wir“ und „weil“ regelrechte Zauberwörter sind und dass erfolgreiche Überzeugungsarbeit sowie wirkungsvolle Politikerreden meist die Elemente „Kampf versus Flucht, wir versus sie und richtig versus falsch“ enthalten. Seine Beispiele belegen das sehr eindrucksvoll.
Viele Aha-Erlebnisse
Das Buch macht uns nicht über Nacht zu einem Menschenflüsterer, aber es beschert uns eine Vielzahl von Aha-Erlebnissen und bestätigt auch so manche Vermutung und Beobachtung. Es ist ja schön, wenn die Wissenschaft einem Laien einmal Recht gibt.
Ist es eigentlich eine generelle Modeerscheinung oder eine Eigenheit britischer Sachbuch-Autor:innen? Beim Versuch, die Ausführungen so anschaulich wie möglich zu machen wird wild hin und her gesprungen zwischen wissenschaftlichen Fakten mit dem entsprechenden Fachvokabular, konkreten Fallbeispielen und der Schilderung eigener Aktionen und Erlebnisse. Ich brauchte oft eine Weile, bis mir klar war, wovon Dutton gerade spricht: Ach so, ein Beispiel aus einer Sportart, die ich nur dem Namen nach kenne! Hm, das ist wohl ein historisches Experiment. Ah, jetzt erzählt er vom Treffen mit einem Experten zum Thema XY. Und nun wird er ironisch.
Ein bisschen anstrengend
Ich finde diese Art der Wissensvermittlung anstrengend bis verwirrend. Ein bisschen viel Geschwätz fürs Geld. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, ich hätte mehr von dem Buch profitieren können, wenn ich nur besser verstanden hätte, worauf der Autor hinaus will. Und ich habe eine langjährige und reichhaltige Erfahrung mit Büchern von Psycholog:innen.
Vor allem bei Sport-Beispielen aus mir weitgehend unbekannten Disziplinen war ich raus. Witzig fand ich, dass er irgendwann selbst sagt: „Die Analyse verriet, dass über die Botschaften, die Sportmetaphern enthielten, nicht nur mehr nachgedacht wurde. Sie hatten auch die größere Wirkung. Allerdings nur bei den Sportfans unter den Studenten. Bei denjenigen, die sich nicht für Sport interessierten, erwiesen sich die Bilder als kontraproduktiv. Sie überzeugten weniger und weckten weniger Interesse.“ (Seite 283) Unglücklicherweise ist das so.
Das Buch enthält einen 130seitigen Anhang, und es lohnt sich, einen Großteil davon zu lesen. Dort befinden sich noch sehr aufschlussreiche Informationen. Es steckt überhaupt enorm viel Wissen in dem Buch, aber es war leider nicht so präsentiert, dass ich es problemlos hätte verstehen und nutzen können. Anderen Leser:innen geht das sicher anders. Duttons Bücher werden ja nicht umsonst internationale Bestseller sein. Aber er und ich sind irgendwie nicht kompatibel.
Der Autor
Kevin Dutton, geboren 1967 in London, ist promovierter Psychologe, er forscht an der University of Oxford und ist Mitglied der British Psychological Society. Er veröffentlicht regelmäßig in führenden internationalen Wissenschaftsmagazinen und spricht weltweit bei Konferenzen. Seine Bücher „Gedankenflüsterer“ und „Psychopathen“ sind international bekannt.
Die Übersetzerin
Ursula Pesch, Übersetzerdiplomprüfung während eines mehrjährigen Aufenthalts in London, ist die Übersetzerin von u. a. Julia Shaw, Allan und Barbara Pease und Stephen Ilardi.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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