Anita Konstandin: Das Böse vergisst du nie. Krimi, Reutlingen 2021, Oertel + Spörer, ISBN 978-3-96555-086-5, Softcover, 228 Seiten, Format: 11,9 x 2,4 x 18,8 cm, Buch: EUR 11,95.
Die Mutter ist verstorben, der Vater im Pflegeheim – jetzt ist der Medizinjournalist Norbert Tennert, 42, dabei, das elterliche Haus in Stuttgart-Bad Cannstatt zu entrümpeln. Er möchte es renovieren und dort einziehen. Nach seiner Scheidung hat er die Zelte in Bremen abgebrochen. Seine Arbeit kann er auch von Stuttgart aus erledigen.
Ein Haus voller schlimmer Erinnerungen
Aber ob diese Rückkehr so eine gute Idee ist? Ans Elternhaus hat Norbert hauptsächlich schreckliche und traurige Erinnerungen. Vor 31 Jahren ist seine Zwillingsschwester Miriam verschwunden. Erst nach Wochen hat man sie tot im Wald gefunden. Wie sie ums Leben gekommen ist, konnte man nicht mehr feststellen.
Seit damals ist Miriams Zimmer unverändert geblieben. Auch das müsste Norbert jetzt ausräumen, doch er weiß nicht, ob er dem gewachsen ist. Vielleicht lässt das einfach eine Entrümplungsfirma machen. Doch die, die er beauftragt hat, erweist sich als äußerst unzuverlässig. So wird er ja nie fertig!
Jugendfreund Wolfgang Koschinski, dessen Onkel Theodor (75) noch immer in der Nachbarschaft wohnt, schaut zwar regelmäßig bei Norbert vorbei, ist ihm aber keine Hilfe. Er hält den Journalisten noch von der Arbeit ab, indem er ihn ständig mit den Problemen seiner Verwandtschaft zutextet: Seine Schwester Ines, die weder privat noch beruflich auf einen grünen Zweig kommt, muss aus ihrer Wohnung raus und möchte samt ihrem Lebensgefährten, einem traumatisierten Ex-Soldaten, ins Haus des Onkels ziehen. Allerdings hat der Onkel schon zwei Mieter: alte Freunde aus dem Schausteller-/Künstler-Milieu, die er schon seit Jahrzehnten kennt. Nicht einmal für die eigene Verwandtschaft würde er Desiree Eschbach oder Harry Rademacher vor die Tür setzen!
Der Nachbar ist verschwunden!
Plötzlich ist der Onkel verschwunden. Nie wäre er über Nacht weggeblieben, ohne seinen Freunden im Haus Bescheid zu sagen. Und schon gar nicht wäre er in fliegender Hast aufgebrochen ohne Geld, Mobiltelefon und Auto. Das sehen auch sein Neffe und seine Nichte so. Doch ehe sie zur Polizei gehen können, muss Wolfang nochmal schnell ins Haus des Onkels und dort etwas … hm … regeln.
Derweil beobachtet Mieter Harry Rademacher misstrauisch den „neuen“ Nachbarn Norbert Tennert, der zunehmend gestresst in seinem Haus herumräumt. Hat der etwas zu verbergen? – Er hat zumindest etwas gefunden: einen Hinweis darauf, wie seine Schwester damals zu Tode gekommen ist. Nun glaubt Norbert, den Verantwortlichen zu kennen. Einen Mord wird man demjenigen nicht anlasten können, weil die Todesursache damals nicht zu ermitteln war. Und alles, was vor ihrem Tod geschah, ist verjährt. Wenn dieser Mensch jetzt noch für Miriams Tod zur Rechenschaft gezogen werden soll, wird Norbert die Sache selbst in die Hand nehmen müssen …
Die Verdächtigen: traurige Gestalten
Wir Leser:innen wissen ein bisschen mehr als die ermittelnden Polizeibeamten – aber auch nicht alles. Dass die Kriminalkommissare Birgit Vogelsang und Marco Lamberti den Vermisstenfall Miriam Tennert zunächst gar nicht auf dem Schirm haben und die erbschleichenden Verwandten verdächtigen, wundert uns nicht. Das ist aber auch ein seltsamer Haufen: in prekären Verhältnissen lebend, psychisch labil, in dubiose Angelegenheiten verwickelt. Mehrfachnennungen sind möglich. Hat etwa einer von ihnen – oder alle zusammen? – den Onkel verschwinden lassen, um an sein Häusle zu kommen?
Nur Kommissarin Birgit Vogelsang vermutet einen Zusammenhang zwischen Miriams Tod und Theodor Jordans Verschwinden. Ihr Chef hält das für ausgemachten Blödsinn.
Und wie weit ist Norbert Tennert mit seinem Bemühen gediehen, denjenigen zur Verantwortung zu ziehen, der seiner Meinung nach den Tod seiner Schwester verschuldet hat? Sagen wir so: Er ist in der Zwischenzeit zu er Erkenntnis gelangt, dass das eine absolut hirnrissige Idee war. Und er wäre gottfroh, wenn er wüsste, wie er aus dieser Nummer wieder rauskommt.
Man traut hier jedem alles zu
Hier mordet nicht die High Society, wie man sie aus Fernsehkrimis kennt. Hier wursteln sich traurig-düstere Verlierergestalten durchs Leben, die jedes Mal, wenn nach einem Zipfelchen vom Glück haschen, prompt danebengreifen und noch tiefer ins Elend rutschen. Und weil alle hier so bedürftig und verzweifelt sind und zudem noch skurrile Hobbys oder eine zweifelhafte Vergangenheit haben, traut man jedem alles zu. Da ist der Pilzfachmann, der sich mit Giften auskennt, der Tierpräparator, der über ein beeindruckendes Messer-Arsenal verfügt, der grimmige Rächer und der skrupellose Dieb. Und wie weit geht wohl die Loyalität der Jahrmarkts-Leute – Schwertschluckerin, Messerwerfer und Illusionist?
Das Unglück der Verdächtigen ist stellenweise schwer zu ertragen. Man ahnt, dass manchen von ihnen wohl nicht mehr zu helfen ist. Eine der wenigen positiv eingestellten Figuren ist die Schwertschluckerin Dorothee Eschbach, und selbst sie hat eine dunkle Seite.
Nachvollziehbare Beweggründe
Der Krimi hat einen überschaubaren Umfang, aber man erfährt von allen relevanten Personen, wie sie in die Lage gekommen sind, in der sie jetzt feststecken, obwohl sie mal ganz andere Pläne für ihr Leben gehabt haben. Ob sie nun Täter oder Opfer sind, beides oder irgendwas dazwischen: Man entwickelt Verständnis für fast alles, was sie tun, auch wenn man es nicht gutheißen kann.
Ich hätte aufgrund der Personenbeschreibung und der Beziehungskonstellationen schwören können, dass die Polizisten dieselben sind, die schon in Anitas Konstandins Krimis MORGEN FRÜH, WENN GOTT WILL und VERHÄNGNISVOLLE FREUNDIN ermittelt haben: Die Kommissarin mit den Brandnarben, die mit ihrem Beruf verheiratet ist … der smarte Kollege, dem seine Familie unermüdlich neue Bräute präsentiert und dabei eisern ignoriert, dass er einen Lebensgefährten hat … die burschikose junge Türkin usw. Doch im vorliegenden Band haben sämtliche Ermittler:innen neue Namen. Das mag daran liegen, dass die vorigen Bände in einem anderen Verlag erschienen sind. Für Neueinsteiger:innen in die Reihe ist das nicht weiter wichtig. Ich sag’s nur für den Fall, dass jemand die anderen beiden Krimis ebenfalls kennt und sich jetzt wundert.
Auch wenn die Autorin uns Leser:innen einen kleinen Wissensvorsprung gewährt: Wie genau der alte und der neue Vermisstenfall zusammenhängen, erfahren wir erst ganz am Schluss. Und so bleibt der Krimi bis zum Ende spannend.
Die Autorin
Die Stuttgarterin Anita Konstandin liebt das Lesen und Schreiben, und so arbeitete die Werbefachwirtin viele Jahre als freie Texterin. Nach zahlreichen Kurzgeschichten schrieb sie auch Kriminalromane, denn ihr Hobby ist die Kriminologie. Besonders interessant findet sie die Psychologie hinter dem Verbrechen, Wie es es dazu gekommen? Was war die Motivation für einen Mord. Privat engagiert sie sich im Tierschutz, in in ihrem Sportverein und bei Ladies Crime Nights mit ihren „Mörderischen Schwestern“.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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